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■ VorschlagWyssozki mit der Seele – Filmuraufführung von „Lieber Wolodja“ im Berliner Ensemble

„Wladimir Semjonowitsch Wyssozki war eine Legende schon zu Lebzeiten.“ So beginnen moderne Märchen. Oder Erzählungen aus der Ferne. Und eben darum handelt es sich bei „Lieber Wolodja“, einem Film über den 1938 in Moskau geborenen Schauspieler, Poeten und Sänger Wyssozki, den der Berliner Regisseur und „Wyssozki-Verehrer“ Günter Kotte schon seit 20 Jahren drehen wollte. Und den er nach dem Ableben der feindlichen Bürokratien in Moskau und Ost-Berlin im letzten Sommer endlich gedreht hat. 17 Jahre nach dem Tod des Barden.

Wyssozki war ein Held der östlichen Welt, mehr noch, ein Mythos, die Verkörperung widerständigen Lebens in der eisigen Stagnationszeit der Ära Leonid Breschnews. Die einzige zu Lebzeiten aufgenommene Kassette mit seinen Liedern kursierte hunderttausendfach kopiert im russischen Samisdat. Seine Poesie, die rauhe Stimme, irgendwo zwischen Wolf Biermann und Tom Waits, seine Selbstinszenierung als tragischer Bohemien trafen den Lebensnerv einer ganzen Generation und beeinflußte Künstler überall im europäischen Osten.

Als er während der Sommerolympiade in Moskau 1980 starb, durfte sein Tod in keiner Zeitung gemeldet werden. Dennoch versammelten sich Tausende, um ihm das letzte Geleit zu geben. Gestrenge Offiziere weinten an seinem aufgebahrten Leichnam, gemeinsam mit eigens aus der Ukraine herbeigeeilten alten Mütterchen. So wenigstens erzählt es der Film.

Aber Günter Kottes Film ist kein Wyssozki-Biographical. Suff und elendes Dahinsiechen in der Psychiatrie, aus der der Schauspieler zuletzt zu seinen Auftritten in Juri Ljubimows Taganka-Theater gefahren wurde, bleiben ausgespart. Weil kaum Originalaufnahmen von dem offiziell Totgeschwiegenen existieren, sucht Kotte die Wahrheit über Wyssozki mit der Seele. Und findet sie bei den Verwandten, den Freunden und Weggefährten, die von ihrem Wolodja erzählen, in Räumen, wo der Held lebte, lernte und liebte. Trotz des Dreigroschenpathos von Sätzen wie „Wyssozki ist Rußland, und der russische Mensch ist Wyssozki“ entsteht ein liebevoll ausgemaltes Erinnerungsbild an ein zutiefst unwirkliches Land, in dem der Staatschef sich zur Entspannung Lieder des offiziell verfemten Sängers vorspielen ließ.

Und selbst wenn der ältere Sohn Wyssozkis recht hätte und alle Geschichten über seinen Vater wirklich erlogen wären, hat Kotte mit „Lieber Wolodja“ doch das überall und ewiggültige Märchen vom mutigen Leben noch einmal erzählt und eine Liebeserklärung für ein Land geschaffen, in dem dieses Märchen wahr gewesen sein könnte, selbst wenn alle Geschichten aus diesem Land klingen wie Märchen. Nikolaus Merck

Heute, 19.30 Uhr, Uraufführung des Dokumentarfilms „Lieber Wolodja“ von Günter Kotte im Berliner Ensemble, Am Schiffbauerdamm in Mitte

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