■ Vorschlag: Redlich sprachlos – Anne Duden in der Humboldt-Universität
Daß Schreiben ein Gewaltakt sei, ist eine in der Literaturgeschichte häufig kolportierte Saga. Und wenn dabei die Geburtsmetapher bemüht wird, macht dies, insbesondere wenn es sich um Männer handelt, mißtrauisch, weil das Bild immer auch von einer verschwiegenen Kränkung erzählt. Im Falle Anna Dudens ist dies anders: Der „gewaltgeladene Auftakt zum Text“, bei dem „die Verbindung gekappt“ und die „Nabelschnur zerschnitten“ wird, bis der Text „atmet allein“, ist bei ihr unterlegt von der Erfahrung erzwungener weiblicher Stummheit, die auch einen autobiographischen Ort hat. Die 1942 in Oldenburg geborene, in der DDR aufgewachsene und nach dem Tode Stalins mit ihrer Familie in den Westen geflüchtete Autorin, für die das Prädikat „Dichterin“ durchaus angemessen erscheint, knüpft in ihren Überlegungen über das Schreiben an die traumatischen Kriegserfahrungen des Kindes in einer Umgebung an, die es, in der eigenen Muttersprache, „redlich sprachlos“ machte.
Doch spätestens mit dem 1985 erschienenen Prosaband „Das Judasschaf“ verfügt die zwischen London und Berlin nomadisierende Schriftstellerin unbestritten über eine eigene unverkennbare Sprache, die sich nicht leicht erschließt, weil die Worte „meinen lebenden Körper mit Haut und Haar“ brauchen. Im Rahmen einer Paderborner Gastdozentur für SchriftstellerInnen entstand der Text „Zungengewahrsam“, in dem Anne Duden diesen theoretischen und biographischen Bezugspunkt ihres Schreibens reflektiert.
Große Worte und emphatische Bekenntnisse sind mit Anne Duden nicht zu haben, dafür die schmerzliche Übung am Zungengrund, wenn der Leib schreit, bis, eines Tages, ein von Kopf bis Fuß bandagierter Säugling das Tageslicht erblickt, der „Weckhauch einer Mumie, damit die Lebenden wieder das Gras wachsen hören“. In außerordentlich dichten, teilweise paradoxen Bildern gelingt es Anne Duden, diesen Schreibprozeß einzufangen und rückzubeziehen auf die Erfahrungen des „Zonenwechsels“, Symbol der Heimat – und Sprachlosigkeit. Dieses unerreichbare „Jenseits“ der „Zone“ setzt sie in den Stand, alles umzuwerfen, „selbst das Alphabet und die Grammatik“. Ulrike Baureithel
Anne Duden liest „Zungengewahrsam“; Mosse-Lecture, 22.1. 98, 19 Uhr im Senatssaal der Humboldt-Universität (Hauptgebäude)
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