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■ VorlesungskritikMonsieur le président

Das sind die Momente, die Johann Wilhelm Gerlach liebt. Mit staatsmännischer Geste schritt der FU-Präsident gemeinsam mit seinem Kollegen von der EU durch den Mittelgang des Audimax, als bildeten die Studierenden zu beiden Seiten eine Ehrenformation. Auf völlig gleicher Ebene standen beide aber nicht: Während Gerlach sich gerade wiederwählen läßt, ist Jacques Delors als Kommissionspräsident bereits außer Dienst. Das Publikum ließ sich davon freilich nicht stören, bereitete ihm einen stürmischen Empfang und redete ihn mit „monsieur le président“ an. Mindestens die Hälfte der Anwesenden hätte Jacques Santer vermutlich für eine Champagnermarke gehalten.

Seine Weltläufigkeit wollte Gerlach auch dadurch demonstrieren, daß er seine auf deutsch frei vorgetragene Einführung anschließend auf französisch vom Blatt ablas. Darin stellte er die Verbindung zum Vortrag des früheren polnischen Außenministers Krysztof Skubiszewski in der vergangenen Woche her. Dem vielbeschworenen Ziel, die Verständigung mit Polen zu einer ähnlichen Erfolgsgeschichte zu machen wie einst die Aussöhnung mit Frankreich, hatte sich auch die FU verschrieben, als sie zum 50. Jahrestag des Kriegsendes Skubiszewski und Delors als Gastredner einlud.

Wie kaum anders zu erwarten, waren die Unterschiede aber nicht zu übersehen. Während Skubiszewski mit einem kleinen Hörsaal des Otto-Suhr-Instituts vorliebnehmen mußte, füllte Delors das Audimax. Setzt bei polnischen Rednern schon die Einladung fließende Deutschkenntnisse voraus, sprach Delors – natürlich – französisch. Auch die Mehrzahl der Fragesteller bediente sich des transrhenanischen Idioms. Immerhin wurde den Sprachunkundigen eine Simultanübersetzung geboten. Erstaunlich, welche technischen Möglichkeiten die FU mobilisieren kann, wenn es darum geht, mit Hilfe großer Namen den ramponierten Ruf aufzupolieren.

Die Deutschen, so lautete eine der Kernthesen von Delors' Vortrag, neigten zu einer Unterschätzung ihres Einflusses auf den Aufbau Europas. Nicht nur das Konzept der Währungsstabilität und die „Philosophie“ der Wirtschafts- und Währungsunion seien wesentlich deutsche Produkte, sondern auch Rechtsstaatlichkeit, Föderalismus und die soziale Dimension.

Wie sehr die Brüsseler Eurokratie aber auch von französischer Bürokratietradition geprägt ist, machte schon der Duktus des Vortrags deutlich. Fast ausdruckslos nuschelte Delors exakt 45 Minuten ins Mikrofon, alle Probleme und Aspekte hierarchisch gliedernd. Als er gegen den Fundamentalismus wetterte, der Politik und Religion vermische, war deutlich herauszuhören, daß der erfolgreiche Moderator europäischer Interessenpolitik der in Deutschland geläufigen Vermischung von Politik und Moral nichts abgewinnen kann.

Am Schluß wurde er doch noch pathetisch. Er appellierte an die versammelte Jugend, jenen europäischen „Familiengeist“ zu bewahren, der auch in scheinbar ausweglosen Situationen Kompromisse möglich machte. „Sonst ist Europa verloren.“ Ralph Bollmann

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