■ Vorlauf: Die Logik des Terrors
„Erschießt sie wie die Hunde...“, 23 Uhr, ARD
Im Gulag treffen sich zwei Häftlinge. Fünf Jahre habe ich bekommen, sagt der eine – für nichts. Unfug, sagt der andere, für nichts gibt es zehn Jahre. Dieser Witz, den ein Zeitzeuge in Heinrich Billsteins Dokumentation über die Moskauer Prozesse 1936 bis 1938 erzählt, trifft das Wesen des Stalinschen Terrors: Willkür und Maßlosigkeit. So fand sich der Staatsanwalt des ersten Moskauer Schauprozesses Jagoda im zweiten auf der Anklagebank wieder. Und das war gleichbedeutend mit dem Tod. Der Terror erschien irrational – gerade darin lag seine Logik. Jeder konnte schuldig sein. Der Terror der 30er Jahre war ein verdeckter Bürgerkrieg gegen das eigene Volk. Man brauchte die „Volksfeinde“, um zu erklären, warum die kommunistische Utopie nicht funktionierte.
Billsteins Feature beginnt mit dem Kirow-Mord 1934, den Stalin nutzte, um alle potentiellen Gegner umzubringen. Die Dokumentation ist klar in gut ein Dutzend Kapitel gegliedert. Die wichtigsten Zeitzeugen treten kurz auf: Larissa Bucharina, deren wunderbaren Memoiren („Nun bin ich schon weit über zwanzig“, Steidl Verlag) wir die präziseste Schilderung des Geschehens verdanken; der Historiker Roy Medwedew; der Karikaturist der Istwestija, der damals Bucharin als Nazi zeichnete; die Tochter von Rykow, der 1938 hingerichtet wurde, und auch NKWD-Offiziere. Das ist solide gemacht: Der Off-Text informiert schnörkellos, im Hintergrund ertönt manchmal dezent jene Schostakowitsch-Symphonie, die der Komponist damals aus Angst vor Stalin nicht zu veröffentlichen wagte. Insgesamt wirkt die Inszenierung freilich etwas leidenschaftslos. Die Panik, die damals herrschte, mit Bildern nächtlicher Straßen zu illustrieren, ist kein Höhepunkt inszenatorischer Phantasie.
Dem Rätsel, das die Schauprozesse bis heute aufgeben, der Frage, warum die Opfer willig mitspielten, kommt Billstein nicht näher. Dafür müßte man sich wohl intensiver mit den Biographien von Bucharin, Rykow und den anderen beschäftigen, als es in einem historischen Überblick möglich ist. Stefan Reinecke
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