: Vorbeben im Iran
Das Mullah-Regime gilt bislang als reformunfähig. Doch einer Bevölkerung, die sich von ihm und seiner Religion immer weiter abwendet, wird es nicht mehr lange widerstehen
Was waren nicht alles für Hoffnungen mit dieser Abreise verbunden. Am 16. Januar 1979 verließ Schah Mohammed Resa Pahlavi seine Heimat, die zu dem Zeitpunkt noch Kaiserreich Iran hieß. Der „König aller Könige, das Licht der Arier“ – wie er sich nannte – machte endlich den Weg frei für eine bessere Zukunft. Dachte man. Gegen Unfreiheit, Zensur, Folter, Fremdbestimmung hatte sich das iranische Volk in einer Revolution gewendet, mit der niemand gerechnet hatte. Das System des Schah galt als stabil, weil vor Waffen strotzend, und als modern. Das reichte. Für die eigene Bevölkerung jedoch war der iranische Monarch ein Despot, der seinem Volk jedwede Mitsprache verweigerte und Kritik brutal unterdrückte. Allgegenwärtig war sein Geheimdienst, dessen Foltermethoden die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzten. Und trotz der immens großen iranischen Ölvorkommen lebte ein Großteil der Bevölkerung in Armut.
Und heute, 25 Jahre später? Heute gibt sogar die iranische Handelskammer zu, dass 40 Prozent aller Iraner unterhalb der Armutsgrenze leben, ausländische Diplomaten schätzen die Zahl auf über 60 Prozent. Noch immer herrschen Unfreiheit, Zensur und Folter, das Volk ist unzufrieden mit dem System. Seit ihr erstmals die Chance dazu geboten wurde, im Jahre 1997, hat die iranische Bevölkerung jede Möglichkeit genutzt, ihrem Wunsch nach Reformen Ausdruck zu geben. 1997, 2000 und 2001 wählte sie den Präsidentschaftsbewerber und diejenigen Parlamentarier, die ihr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit versprachen.
Die Frage aber ist, ob dieses System überhaupt reformierbar ist. Bislang ist eine Reform an den Besonderheiten des iranischen Systems gescheitert. Zwar enthält es Elemente einer parlamentarischen Demokratie – wie das Parlament und den Präsidenten. Diesen Institutionen ist aber jeweils eine andere, klerikale übergestülpt. Wenn die Reformer daher das Parlament beherrschen, wie sie es seit August 2000 tun, ist damit nicht viel gewonnen. Ähnlich machtlos ist der Präsident. Das Parlament konnte wegen der Macht des Wächterrats kaum eines seiner über 50 Reformgesetze durchbringen. Insgesamt wurden 90 Prozent aller Gesetze, die das Parlament eingebracht hat, von dem Gremium als verfassungsfeindlich abgelehnt.
Deswegen hat die jüngste Aktion des Wächterrates fast Erstaunen hervorgerufen. Er hat 80 reformorientierten Parlamentsmitgliedern die Kandidatur für die nächsten Wahlen verweigert, obwohl das Parlament den Konservativen kaum gefährlich werden kann. Außerdem hätten sie die Wahlen ohnedies mit großer Wahrscheinlichkeit gewonnen: Die Bevölkerung ist frustriert und desillusioniert bezüglich ihrer Möglichkeiten, durch Wahlen Einfluss auf die iranische Politik zu nehmen. Deshalb ist sie bereits im Februar letzten Jahres bei den Kommunalwahlen den Urnen fern geblieben – was zur Folge hatte, dass die Konservativen den Sieg davontrugen, weil nur sie ihr Wählerpotenzial mobilisieren konnten.
Dass das System seine Legitimität verliert, je weniger Menschen zu den Wahlen gehen und je mehr Kandidaten ausgeschlossen werden, scheint die Konservativen indes wenig zu scheren. Denn mittels des Wächterrats hat man sich bereits in der Vergangenheit in großem Umfang missliebiger politischer Rivalen entledigt – so im Jahre 1992, als der Wächterrat verhinderte, dass das Parlament von Linksislamisten dominiert sein würde, dem politischen Lager also, aus dem viele der heutigen Reformkräfte hervorgegangen sind. Hinzu kommt, dass die Auslesetätigkeit der Ratsmitglieder eigentlich gegen die Verfassung verstößt. Sie sieht nicht vor, dass der Wächterrat die Kandidaten für die Wahlen auswählt. Diese Aufgabe wurde ihm erst 1992 vom so genannten Schlichtungsrat übertragen. Dieses Gremium wiederum war in der ursprünglichen Verfassung aus dem Jahre 1980 ebenfalls nicht vorgesehen, sondern erst 1989 auf Beschluss von Ajatollah Chomeini ins Leben gerufen worden. Wegen Neuerungen wie diesen und vor allem wegen der Machtfülle von Revolutionsführer Ali Chamenei sagen heute sogar prinzipielle Befürworter der Staatsdoktrin der Islamischen Republik Iran, dass die Väter der iranischen Verfassung ein vollkommen anderes System im Sinn hatten. Groß-Ajatollah Hoseinali Montaseri, der selber die Verfassung mit ausgearbeitet hat, wirft den herrschenden Konservativen vor, die Intentionen der Verfassung pervertiert zu haben.
25 Jahre nachdem der Schah das Land verlassen hat, 25 Jahre nachdem Ernst gemacht wurde mit der islamistischen Devise „Der Islam ist die Lösung“, ist die Entfremdung zwischen dem Volk und seinen konservativen Herrschern kaum mehr zu überbieten. Dazu hat auch das Erdbeben von Bam beigetragen. Warum musste das Beben so viele Tote fordern? Die Frage wurde in der iranischen Presse offen gestellt und auch beantwortet: weil Korruption herrscht und Bauverbote nicht beachtet werden; weil die Herrschenden das Volk ausbluten lassen und Misswirtschaft herrscht in dem potenziell reichen Land.
Doch obwohl momentan alle Zeichen dagegen sprechen – letztlich werden die Reformkräfte doch gewinnen. Die Zeit des theokratischen Staatsmodells in Iran läuft ab, weil ihm die Gesellschaft abhanden gekommen ist. Vor allem die iranische Jugend hat sich von den herrschenden Klerikern abgewandt. 70 Prozent der Jugendlichen sind jünger als 30 Jahre. Sie haben keine Erinnerung an die Schahzeit, sehen aber, dass die Ideale der Revolution nicht verwirklicht wurden. Jede kleine Vergnügung wird ihnen im Namen einer konservativen Islamdeutung verwehrt. „Wenn das der reine mohammedanische Islam ist, dann leben wir lieber ohne“, denken heute viele Iraner. Laut Umfragen verrichten heute in der laizistischen Türkei mehr Menschen ihre täglichen Pflichtgebete als im angeblichen Gottesstaat Iran.
Reformpolitiker machen die Konservativen für die negative Einstellung der Jugend zum Islam verantwortlich. Mohammed Resa Chatami, der Bruder des amtierenden Präsidenten und neue Shootingstar unter den Reformern, stellte vor kurzem offen und unumwunden klar: Die iranische Jugend flüchte wegen der gewalttätigen und diktatorischen Interpretation vor der Religion. Im Jahr 25 nach der islamischen Revolution hat Iran möglicherweise die am weitesten säkularisierte Bevölkerung des Nahen Ostens. Eine Bevölkerung, der die Gefahren einer Einheit von Politik und Religion deutlich geworden sind.
Und es gibt Hoffnungsschimmer: Trotz aller Rückschläge im Reformprozess hat sich eine bewusste, politisch interessierte Öffentlichkeit herausgebildet. Es gibt erste, kleine Ansätze zivilgesellschaftlicher Organisationen und vor allem eine Gesellschaft, die eine Liberalisierung der öffentlichen Sphäre will. All das ist zukunftsträchtig. Denn auch wenn die politische Reformbewegung scheitert, muss das nicht heißen, dass die gesellschaftliche es ebenfalls tut.
KATAJUN AMIRPUR