Vorauseilender Jahresrückblick 2016: Baden auf dem Bahnhofsvorplatz
Ein Abgeordneter nach dem anderen beraubt sich seiner Immunität – und beim Neubau auf dem Bahnhofsvorplatz werden immer neue Löcher gegraben.
10. Januar Angesichts der frostigen Temperaturen schlägt die AfD vor, den Atombunker unter dem Marktplatz als Flüchtlingsunterkunft zu nutzen. „Dort gibt es Heizkörper und reichlich Pritschen“, erklärt Thomas Jürgewitz, stellvertretender Sprecher des AfD-Landesvorstandes. „Gut abgelagerte Konserven“ seien dort „sicher auch noch zu finden“.
19. Januar In der ersten Bürgerschaftssitzung nach der Weihnachtspause nimmt Innensenator Ulrich Mäurer mit etwas zotteligem, aber erkennbarem Vollbart auf der Regierungsbank Platz.
20. Januar Der sozialpolitische Sprecher der SPD, Klaus Möhle, weist den AfD-Vorschlag zur Atombunker-Nutzung als „menschenverachtend“ zurück. Im Gegensatz zur Zelt-Unterbringung mangele es der unterirdischen Anlage „an Licht und Luft“. Am selben Tag überrascht der Ex-Reeder Niels Stolberg zum Auftakt seines Betrugs-Prozesses mit der Vorlage eines ärztlichen Gutachtens: Wegen beruflicher Überlastung des Beklagten sei von dessen „eingeschränkter Verhandlungsfähigkeit“ auszugehen.
8. Februar Das Bremer Landgericht entscheidet, die angesetzten 56 Verhandlungstage des Stolberg-Prozesses zu verdoppeln, da mit Rücksicht auf die berufliche Überlastung des Angeklagten nur halbtags verhandelt werden könne. Gerichtssprecher Thorsten Prange prognostiziert: „Unsere Absicht, möglichst noch 2016 ein Urteil zu sprechen, könnte sich als haltlos erweisen.“
4. März Der Jahresetat des Museums Weserburg wird auf jährlich 1,276 Millionen Euro begrenzt. Dessen Direktor Peter Friese weist darauf hin, dass unter diesen Umständen „nur noch das Anspitzen von Bleistiften und Einschalten des Lichts finanzierbar“ sei.
20. März Der grüne Abgeordnete Matthias Güldner erklärt, künftig auf seine Immunität als Abgeordneter verzichten zu wollen. Das möge als Zeichen für eine „dringend notwendige Reform der Immunitätsregelungen“ verstanden werden. Güldner wörtlich: „Irgendjemand muss doch die Konsequenzen aus dem Mauschel- und Vorteilnahme-Image der politischen Akteure ziehen.“ Und wenn seine Fraktions-Vorsitzende das nicht tue, müsse er sich eben selbst dafür zur Verfügung stellen. Mäurers Bart ist noch länger geworden.
5. April Parlaments-Präsident Christian Weber belehrt Güldner während einer Bürgerschaftssitzung, dass „ein intentionales Ruhenlassen des persönlichen Immunitätsschutzes“ nicht möglich sei. „Wenn Sie da wirklich raus wollen“, fügt Weber unter dem Applaus des Bürgerschafts-Plenums hinzu, „müssen Sie schon eine Beule riskieren.“ Allerdings, fügt er hinzu, „müssen Sie den Mumm haben, danach schnell abzuhauen“.
7. April Die SPD ist empört über eine Einreichung zur parlamentarischen Fragestunde: Unter Top 15 will die CDU wissen, „ob der Innensenator mit seinem Äußeren beabsichtigt, eine religiöse Präferenz signalhaft zum Ausdruck zu bringen“. SPD-Fraktionschef Tschöpe geißelt die Frage als „zu intim, inkriminierend und indiskutabel“. Die CDU zieht die Frage zurück.
18. April Die Arbeiten am Bahnhofsvorplatz müssen vorübergehend eingestellt werden: Teile des schweren Geräts sind nicht einsatzfähig. Durch das Anbohren einer leicht zu übersehenden Starkstromleitung war es zu einer Kurzschluss-Kette gekommen, die die Steuerelektronik diverser Radschaufelbagger lahmlegt.
4. Mai Innerhalb der SPD kursieren aufgeregte Gerüchte über eine Konversion Mäurers zum Islam.
6. Mai Bild titelt: „Liegt unsere Sicherheit in den Händen eines Muslim?“
12. Mai Finanzminister Wolfgang Schäuble äußert sich am Rande der Bundespressekonferenz zu den Vorschlägen für eine finanzielle Entlastung der ärmeren Bundesländer auf Kosten des Bundes: „Däs isch eine abendeuerliche Idee.“ Insbesondere Bremen als „das Griechenland Deutschlands“ müsse „eigene Wege zum Verlassen des Schuldenpfades finden“.
20. Mai Die Weserburg eröffnet eine Sonderausstellung mit dem Titel „The Arts of Poverty“. Im Zentrum steht die Materialität der ausgestellten Objekte: Sie bestehen ausschließlich aus sich rollenden Anspitzresten. Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz erklärt bei der Eröffnung: „Ich freue mich sehr, zu sehen, dass dieses Haus mittlerweile in der Lage und Willens ist, aus jeder Not eine Tugend zu machen.“ Das sei ein Ergebnis der „beharrlichen Kärrnerarbeit“ des Kulturressorts.
22. Mai Bild macht wieder einen Mäurer-Titel: „Bart dran, Kreuze ab!“ Recherchen der Zeitung zufolge seien auf den Fluren und Dienstzimmern des Polizeipräsidiums in der Vahr weniger christliche Symbole zu finden als im Vergleichsjahr 1957.
23. Mai Die AfD bringt einen „Dringlichkeitsantrag“ ein. Titel: „Bremens Polizei muss religiöse Neutralität wahren.“ Am selben Tag spricht die Gewerkschaft der Polizei in einer Presseerklärung von „Besorgnis und Irritation bei denen, die täglich Kopf und Helm hinhalten“.
24. Mai „Besorgte Bürger“ demonstrieren vor dem Innenressort an der Contrescarpe. Sie fordern Mäurers sofortigen Rücktritt.
2. Juni Bürgermeister Carsten Sieling weist Schäubles Äußerungen empört zurück. Nur, weil er mit einer Griechin verheiratet sei, dürfe man ihm keine „griechische Haushaltsführung“ unterstellen.
5. Juni Ein performativer Akt im Rahmen der Sonderausstellung in der Weserburg verlangt Direktor Friese hohen Einsatz ab: Innerhalb von dreieinhalb Minuten rennt er durch sämtliche Räume des Museums und schaltet jeweils das Licht ein.
6. Juni Maike Schaefer, Vorsitzende der Grünen-Fraktion, weigert sich auf einer turbulenten Fraktionssitzung, freiwillig Fahrerflucht zu begehen. „Es muss auch andere Wege geben, meine Immunität loszuwerden“, erklärt sie.
8. Juni Das Kulturressort fordert von der Weserburg-Verwaltung eine gesonderte Auflistung der Nebenkosten-Aufwendungen an.
10. Juni Mäurer erscheint – kommentarlos – glattrasiert zu einem Hintergrundgespräch der Landespressekonferenz. Auch der Schnäuzer ist ab.
12. Juni Bild bringt ein Dossier mit dem Titel: „Die List der Konvertiten: Vor welchen Täuschungen wir auf der Hut sein müssen.“
14. Juni In einem Exklusiv-Interview mit der taz enthüllt Mäurer seinen Bart-Spin. Er habe testen wollen, erklärt er, „ob allein mittels Körperbehaarung eine ähnliche Wirkung erzielt werden könne wie durch die Absage eines Fußballspiels“. Warum nun aber auch der Schnäuzer ab ist, verschweigt er selbst der taz.
28. Juli Thomas Jürgewitz nutzt die Sommerpause, um seinen Austritt aus dem Bremer Landesverband der AfD zu erklären. Es sei für ihn „nicht länger hinnehmbar, dass dort das griechische Element dominiere“. Auch das abendländische Familienideal sei in der regionalen AfD-Spitze „nicht hinreichend repräsentiert“.
30. Juli Jürgewitz gibt bekannt, eine Partei namens „Beta“ gegründet zu haben. Alexander Tassis, einziger AfD-Abgeordneter der Bremischen Bürgerschaft und Bundessprecher der „Homosexuellen in der AfD“, erklärt, den AfD-Austritt von Jürgewitz nicht kommentieren zu wollen.
1. August Thomas Röwekamp lädt zu einer Pressekonferenz, auf der er von einem geglückten Kaufhaus-Diebstahl berichtet. „Als Anwalt fiel es mir sehr schwer, mein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein für einen Moment hintanzustellen“, gibt der CDU-Fraktionsvorsitzende einen Einblick in sein Inneres. Das höhere Ziel einer Reform der Immunitätsregelungen habe ihn jedoch dazu veranlasst, „über den juristischen Schatten meiner selbst zu springen“.
2. August In der Nacht zum Dienstag gibt’s wieder Großalarm auf der Baustelle am Bahnhofsvorplatz. Diesmal haben die Arbeiter eine Trinkwasserleitung angebohrt. Langsam füllt sich die Baugrube.
6. August Noch immer steigt der Wasserpegel am Bahnhofssee. Die Bauleitung der Griese Treuhand GmbH erklärt, die zerstörte Wasserleitung nicht stopfen zu können, da der Verlauf der Zuleitungen nicht den Lageplänen zu entnehmen sei.
10. August Die ersten Jugendlichen nutzen den See zum Schwimmen.
11. August Laut einer Pressemitteilung hat sich Jürgewitz‘ „Beta“-Partei in „Gamma“ umbenannt. Grund sei die Notwendigkeit einer deutlicheren Abgrenzung von der „mittlerweile vom politischen System einverleibten“ Gruppierung „Alpha“ des früheren AfD-Chefs Lucke, heißt es darin.
12. August Das Bauressort verfügt einen Baustopp für den Bahnhofsvorplatz. Insel-Bauwerke an dieser Stelle seien nicht genehmigungsfähig. Zudem bestünden „begründete Zweifel an der Bauleitungs-Kompetenz seitens des Generalunternehmers“.
16. August Auf der Leserbrief-Seite des Weser-Kuriers erscheinen die ersten Zuschriften, die die dauerhafte Umwidmung des Bahnhofvorplatzes zum Badesee anregen. Mehrere ältere Bürger und Bürgerinnen erinnern daran, dass auf dem Areal früher eine Badeanstalt stand. „Dort, wo ich als Kind mit Eifer schwimmen lernte, möchte ich nun auch als Senior meine Bahnen ziehen“, schreibt Hans-Jörg S. aus B.
9. September Bürgermeister Sieling weiht das von der taz per Crowdfunding finanzierte Anti-„Arisierungs“-Denkmal vor dem Firmensitz von Kühne+Nagel an der Wilhelm-Kaisen-Brücke ein. Überraschend erscheint Klaus-Michael Kühne während der Zeremonie und legt einen Kranz mit der Aufschrift „Dem Vater sein treuer Sohn“ nieder.
3. Oktober Im Ludwigshafener Ankerverlag erscheint Stolbergs Buch „Unsinkbar: Ein deutscher Reeder über seinen Aufstieg und Fall“. Die „Martime Revue“ spricht in ihrer Rezension von „tiefen Reflexionen eines tief getroffenen Menschen und Machers“.
21. Dezember Jürgewitz‘ Partei firmiert auf ihrer Homepage nun unter dem Namen „Delta“.
23. Dezember Erstmals friert der Bahnhofssee zu. Zahlreiche Schulkinder nutzen die neue Freizeitfläche zum Schlittschuhlaufen.
28. Dezember Der Geeste-Express erhebt schwere Vorwürfe gegen Bremerhavens Oberbürgermeister Melf Grantz: Das Stadtoberhaupt habe Ermittlungen der städtischen Anti-Korruptionsbeauftragten in Zusammenhang mit dem Offshore-Terminal Bremerhaven (OTB) verhindert. Im Kern gehe es darum, dass Bremenports die Kajenlängen des OTB mit frisierten Zollstöcken bestimmen lasse.
30. Dezember Nach einer Woche strengen Frostes betritt auch Verkehrssenator Joachim Lohse offiziell den See und dreht für die Kameraleute von RTL Nord einige gekonnte Pirouetten auf dem Eis. „Ich habe schon immer dafür plädiert“, sagt er anschließend in die Mikrofone, „die Bahnhofsvorstadt durch eine Neugestaltung des Platzes aufzuwerten.“ Dass Bremen dies nun auch noch „auf unerwartet kostengünstige Weise“ geglückt sei, beweise abermals die strategische Klugheit der behördlichen Stadtentwicklungsplanung. An diese Stelle des Interviews kracht das Eis ein, Lohse kann sich mit Mühe ans Ufer der Baugrube retten.
31. Dezember Die Griese Treuhand gesteht ein, dass auch die Fernwärme-Leitungen unter dem Platz beschädigt sein könnten. Das führe zu „eruptiven Wärmeschüben am Seeboden“. Leider seien die entsprechenden Pläne nicht zu lesen gewesen.
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