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Vor der Wahl in NiedersachsenAuf zur guten Landpartie

Das Wendland, ein verschlafenes Eck, wurde von Protenstierenden erweckt. Heute suchen Umweltbewegte aus der Stadt das Idyll heim.

Zutiefst Kleinkunst: Hier auf der „Muetzingenta“, Landkreis Lüchow-Dannenberg Foto: Gerald Haenl/picture alliance

Wendland taz | Es war einmal ein Landkreis, der war klein und hatte nur wenige Einwohner:innen, meist so um die 50.000. Er war so unbedeutend wie unbekannt. Darüber waren die Menschen in dem kleinen Landkreis froh, so hatten sie ihre Ruhe vor der großen Politik, vor großen Krisen und großen Menschenansammlungen. Der kleine Landkreis heißt Lüchow-Dannenberg, viele kennen ihn als „das Wendland“.

Wenden sind eigentlich Slawen, aber mit denen hat das Wendland nichts zu tun. Es ist eine Landschaft im östlichen Niedersachsen, direkt an der einstigen Grenze zur DDR.

Und dann kamen unzählige, meist junge Menschen mit wilden Haaren, viel Gras in den Taschen und noch mehr Protestlust

Die Wendländer:innen, die zumeist Bauern waren, hatten es sich gemütlich gemacht in ihren Reetdachhäusern und Rundlingsdörfchen, die Namen tragen wie Dickfeitzen, Jiggel, Gohlefanz. Welch eine Idylle, hörten die Wend­län­de­r:in­nen nicht auf zu schwärmen. Doch dann wurde in Gorleben, einem langgestreckten Dorf an einem Seitenarm der Elbe, ein Zwischenlager für Atommüll gebaut und der daneben liegende Salzstock für atomare Forschungszwecke unterirdisch erschlossen. Seitdem war es vorbei mit Stille und Beschaulichkeit im Wendland.

Fortan kamen unzählige, meist junge Menschen mit wilden Haaren, viel Gras in den Taschen und noch mehr Protestlust. 1980 bauten sie ein Hüttendorf in der Nähe einer Tiefbohrstelle und nannten es Republik Freies Wendland. Nach einem Monat räumten die Polizei und der Bundesgrenzschutz das Lager. Das war der Beginn einer einzigartigen Protestkultur: gegen ein Atommülllager in Gorleben, gegen atomare Aufrüstung, für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Naturverbundenheit.

Landesweiter Ruhm

Seitdem ist das Wendland bekannt von Waase auf Rügen bis Waalhaupten im Allgäu. Seitdem zieht es auch Städter nahezu magisch an. Manche Be­su­che­r:in­nen machten wochenlang Urlaub, andere blieben übers Wochenende. Mit den Jahren kamen immer mehr Tourist:innen, im Jahr 2019 zählte das Tourismusmarketing Niedersachsen 544.297 Übernachtungen in 103 „Beherbungsbetrieben“. 2021, nach einem herben Lockdowneinschnitt, waren es schon wieder 260.634. Die Leute, die aus Hamburg und Berlin kamen und irgendwas mit Medien machten, kauften sich bald Gehöfte und große Häuser, in manchen Dörfern gibt es heute mehr „Stadtstoffel“ als Einheimische.

Sie alle trieb die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, nach Gemeinschaft, nach Abenteuerlust. Sie wanderten mit Eseln, ihre Kinder ritten auf Ponys.

Auf ihren Grundstücken sammelten sie die von den Bäumen gefallenen Äpfel auf und brachten sie zum Saftproduzenten Voelkel, sie kauften Eier beim Bauern nebenan und bestellten bei ihm die Weihnachtsgans, bio natürlich. Donnerstags fuhren sie nach Meuchefitz, einem winzigen Dorf mit Tagungshaus und Kneipe, die nur an diesem einen Tag offen hat. Meuchefitz war der „Anlaufpunkt für die Alternativszene im Landkreis“, so beschreibt die Donnerstagskneipe sich selbst. Erst kamen nur Einheimische, seit vielen Jahren aber immer mehr Tourist:innen.

Es gab einen Holzkohleofen, in dem Pizza gebacken wurde, manchmal suhlten sich hinter dem Haus Schweine, die die Kinder streicheln durften. Gegenüber der Tagungsstätte stand seit Jahrzehnten eine Wagenburg, darin wohnten so um die zehn Frauen und Männer. Sie kochten für die Donnerstagsgäste, sie standen für sie hinter dem Tresen und trugen das Essen an den Platz, nachdem die Gäste mit ihrem Namen (oder mit dem, den sie bei der Bestellung ihres Essens angegeben haben) aufgerufen worden waren. Sie konnten zwischen drei Preisen wählen: Soli, Normal, Besserverdienende. Meuchefitz war die letzte sozialistische Oase in der Bundesrepublik.

Aufkeimende Langeweile

Irgendwann aber hatten die „Stadtstoffel“ jeden Radweg abgefahren, das Wendlandbräu oft genug getrunken, jedem Local-Loser-Wettstreit, bei dem die schlechtesten Sän­ge­r:in­nen gewannen, beigewohnt. Die reichen Städter in ihren großen Häusern begannen sich zu langweilen und die Protestler wollten auf andere, neue Weise aktiv und produktiv sein: der Republik zeigen, wie ökologischer Landbau funktioniert, dass Solarenergie kein Hirngespinst ist, wie Gemeinschaft und Solidarität gelebt werden können – in Kommunen, Hofkollektiven, mit Gemeinschaftsküchen und wöchentlichem Plenum.

Und sie wollten mehr Kultur in der Ecke des Landes bringen, die politisch so aufgeladen war wie kein anderer Winkel in der Republik. Die Idee eines ganz besonderen Kulturfestes war geboren, die Kulturelle Landpartie.

Seit 1990 öffnen Bauernfamilien, Handwerker:innen, Künst­le­r:in­nen alljährlich zwischen Himmelfahrt und Pfingstmontag ihre Werkstätten, Höfe, Ateliers und präsentieren ihre Produkte: handgewebte Teppiche, Schafwollpullover, Patchworkdecken, Blumen aus recyceltem Glas, Weihnachtsschmuck mit aufgemalten Hirschen, schmiedeeiserne Kerzenständer.

Es gibt Wildkräuterwanderungen, Kurse zum Drachenbauen, Bogenschießen, Glasblasen, Zaubertrickworkshops, einen Gauklermarkt, indianische Gesänge, Harfenkurse, Reiki oder einfach „kreative und meditative Augenblicke am Waldesrand“, wie ein Therapeut vor einigen Jahren offerierte. Es ist das größte selbst organisierte Kulturfestival Deutschlands, eine Melange aus Kunst, Klamauk, Kitsch. Und es ist Kult.

Die Caravan-Karawane

Jedes Jahr reisen Zehntausende zu den Wunderpunkten, wie die Stationen in den Galerien, Läden, Garagen, Scheunen heißen. Es kommen Familien aus Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Bayern. Manche schlafen im Heuhotel im Schlafsack, andere zelten auf einem Campingplatz, der eigentlich eine Kuhweide ist. Allein in diesem Jahr zog die KLP, wie Wend­län­de­r:in­nen die Kulturelle Landpartie abkürzen, rund 50.000 Frauen, Männer, Kinder an.

Manche radeln von Wunderpunkt zu Wunderpunkt – und stellen fest, dass die Ölschinken in so mancher Scheune von Laien stammen, die als Rent­ne­r:in­nen mit dem Malen begonnen hatten. Aber die Be­su­che­r:in­nen sind freundlich, sie setzen sich kurz zu den supernetten Wunderpunktler:innen, trinken deren Thermoskannenkaffee und essen den selbst gebackenen Streuselkuchen. Dann lassen sie ein paar Münzen in eine Blechdose klimpern und fahren weiter.

Die KLP wächst und wächst, mittlerweile reisen KLP-Tourist:innen in Wohnmobilen, SUV und Bullis an. Sie verstopfen die Straßen, parken falsch und irritieren das Wild in den Wäldern. Folli und Kurt, zwei Musiker, die als Duo Muul Op aus dem Wendland Lieder auf Plattdeutsch singen, haben ihre eigene Bezeichnung für die KLP gefunden: Klauen Lästern Pöbeln. Folli und Kurt wissen, dass die Wend­län­de­r:in­nen ihr Geld mit der KLP verdienen – und genervt davon sind.

Wenn die „Stadtaffen“, wie Folli und Kurt die Tou­ris­t:in­nen nennen, auf ihren E-Bikes und Lastfahrrädern mit Anhänger über die Straßen tuckern, fühlten diese sich so naturverbunden wie nachhaltig. Dabei hätten die gar kein Gefühl für Tiere und Landwirtschaft, sagen Folli und Kurt. Die „Stadtaffen“ seien nicht mal gewillt, 5 Euro für Musik auszugeben, legten aber locker 8 Euro für ein Stück Bio-Erdbeerkuchen hin. Dabei sei der tiefgefroren und vom letzten Jahr.

Aber das ist egal. Und wenn die KLP wegen Corona nicht ausfällt, findet sie auch nächstes Jahr wieder statt.

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