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Vor der Dunkelheit

Colm Tóibins „Flammende Heide“ – ein verhaltener Roman aus den irischen Mittelschichten  ■ Von Tilman Spengler

Tóibin hat das Zeug zu einem ganz Bedeutenden“, sagte der irische Kritiker, in dessen blaßblaue Augen so etwas wie Glanz gekehrt war. Er wischte sich versonnen den milchkaffeebraunen Bierschaum von der Unterlippe. „Ich persönlich traue ihm den Großen Irischen Gesellschaftsroman zu. Merken Sie sich meine Worte.“

Kritiker sind häufig unerträglich, ganz besonders schlimm wird es, wenn sie vorwurfsvoll von den Schriftstellern ihres Landes den großen Gesellschaftsroman einfordern. Im Fall des jetzt 41jährigen Colm Tóibin ist diese Forderung schon deswegen unberechtigt, weil er mit seinem Buch „Flammende Heide“ tatsächlich eine brillante Beschreibung der irischen Gesellschaft und ihrer Institutionen vorgelegt hat. Nur ist Tóibins Sprache ein leises, verhaltenes Idiom, die Figuren, die er beschreibt, sind unauffällig mit ihrer Umgebung verschmolzen, die Handlung entrollt sich denkbar schlicht.

Ein Richter aus Dublin fährt mit seiner Frau in den Sommerurlaub an die Küste, dorthin, wo der Ozean sich langsam und unaufhaltsam ins Land frißt. Während des Urlaubs erleidet seine Frau einen Schlaganfall, an dessen Folgen sie stirbt. Der Richter kehrt zurück nach Dublin, zum Ende des Buches finden wir ihn wieder in seinem Exil an der See. Er hat sein Enkelkind an das Meer gewöhnt.

Vom Konstruktionsrahmen her ist das so aufregend wie ein Stück von Anton Tschechow. Gewiß, es tauchen ein paar Pulsbeschleuniger auf: Hat nicht doch ein Terrorist seine Bombe unter dem Auto des Helden anbringen können? Wird die Jugendliebe, der die ersten erotischen Erkundungen geschuldet sind, wieder auftauchen? Spricht der Richter mit seiner Frau, die ihn so häufig angefleht hat, seine Distanz aufzugeben?

Der Richter zieht sich zurück, die Jugendliebe bleibt verborgen, keine Bombe geht hoch. Nur das Meer frißt sich weiter vor.

Die Dramatik des Romans bezieht ihre Treibkraft aus einem anderen Zündstoff. Den Lesern wird Seite um Seite das allmähliche Verdunkeln eines Himmels vorgeführt, der anfangs noch durch die Fixsterne einer konservativen Moral erleuchtet wurde. Der Richter, erfahren wir, ist in sein hohes Amt gekommen, weil er sich – bei aller professionellen Brillanz – frühzeitig einer Partei zugeordnet hat, welche die Ehrbarkeit einer revolutionären Tradition mit der Aussicht auf Pfründen zu verbinden wußte. Bei entscheidenden Auseinandersetzungen im Rechtswesen hat unser Held stets Zuflucht genommen hinter der dichten Manteldecke von bereits gefällten Präzedenzurteilen. Wenn seine Frau versuchte, ihn in die Intimität eines Gesprächs über Anwesenheit und Abwesenheit zu ziehen, flüchtete er ins nächstgelegene Zimmer.

„Einen Gesellschaftsroman, wie ich ihn mir vorstelle, würde ich das Buch nicht nennen“, sagte der Kritiker, nachdem ich von der Bar zurückgekehrt war. Schließlich haben wir hier in Dublin auch Drogen, Pornos, Prostitution und organisiertes Verbrechen, eigentlich alles, was ihr in Europa auch habt.“

Es klang weniger wie ein literarisches Lamento über mögliche Defizite in Colm Tóibins Roman als wie eine Bitte um affektive Aufnahme in die europäische Gemeinschaft, deren Präsidentschaft die Republik Irland gerade angetreten hatte.

„Er erzählt alles, was nicht in den Schlagzeilen steht“, gab ich zu bedenken, „und er erzählt, wie wir Journalisten so sagen, ,narrativ virtuos‘. Von Flann O'Brien kenne ich den Ausdruck ,The Plain People of Ireland‘. Der hat das immer sarkastisch gemeint, bei Tóibin verstehe ich wenigstens, daß es sich nicht um eine Schnapsgemeinschaft handelt.“ – „Wir werden schon sehen“, antwortete der Literaturkritiker, „nicht ausgeschlossen, daß Sie die Wahrheit auf Ihrer Seite haben.“

Colm Tóibin: „Flammende Heide“. Roman. Aus dem Englischen von Matthias Müller. Rowohlt, 208 Seiten, 39,80 DM

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