Vor der Brexit-Abstimmung im Unterhaus: Bühne frei für den Showdown
Streit über die Geschäftsordnung eröffnet die Debatte zum Austrittsvertrag mit der EU. Parlamentspräsident Bercow steht massiv in der Kritik.
Da sich an dieser Stimmung nichts geändert zu haben scheint, die EU jede Nachverhandlung ablehnt und die britische Regierung jede weitere Vertagung der Abstimmung ausgeschlossen hat, dürfte Mays Brexit-Deal mit dem Votum am kommenden Dienstag tot sein. Sämtliche Oppositionsparteien lehnen Mays Deal ab. Wachsende Sympathie genießt bei ihnen die Option einer zweiten Brexit-Volksabstimmung, um den EU-Austritt zu kippen, aber sie haben zusammen keine Mehrheit, und das wäre sowieso nicht vor dem 29. März möglich.
Innerhalb der regierenden Konservativen lehnt eine starke Hardliner-Fraktion um Figuren wie Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg den May-Deal aus entgegengesetzten Gründen ab: Sie wollen einen „klaren“ Brexit ohne einen möglichen unbegrenzten Verbleib des Landes in der EU-Zollunion, wie es der Deal in Aussicht stellt. Sie hatten bei ihrem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Theresa May kurz vor Weihnachten die Mehrheit der Hinterbänkler mobilisiert und wissen auch die nordirischen Protestanten der DUP auf ihrer Seite.
Keine Mehrheit für Nichts
Es gibt also eine klare Mehrheit im Parlament gegen Mays Deal – aber noch keine Mehrheit für irgendetwas anderes. Solange das so bleibt, tritt Großbritannien im 29. März 2019 trotzdem aus der EU aus – ohne Vereinbarung. Dieser „ungeordnete“ sogenannte No-Deal-Brexit stößt täglich auf Warnungen wegen der angeblich dramatischen Folgen. Die britische Regierung hat es zur obersten Priorität erklärt, sich darauf vorzubereiten, damit die Folgen – zum Beispiel lange Schlangen an Häfen – abgefedert werden.
Der Austritt am 29. März, ob mit oder ohne Abkommen, entspricht dem vom Parlament im Juni verabschiedeten Gesetz, wonach an diesem Datum die Gültigkeit der EU-Verträge in Großbritannien unwiderruflich erlischt. Parlamentspräsident John Bercow bestätigte am Mittwoch zum Auftakt der Debatte, dass dies nur durch ein anderes Gesetz aufgehoben werden könnte – was in der verbleibenden Zeit nicht möglich ist.
Theoretisch könnte die britische Regierung als Reaktion auf eine parlamentarische Niederlage eine Verzögerung des Brexit bei der EU beantragen. Dies gilt als denkbar, müsste aber von allen anderen 27 EU-Mitgliedern einstimmig gebilligt werden. Es besteht in der EU Einigkeit, dass eine Verschiebung des Austrittstermins nur für kurze Zeit – also spätestens bis zu den Europawahlen im Mai, an denen Großbritannien sonst teilnehmen müsste – und zum Erreichen eines klar definierten Ziels möglich wäre. Könnte sich die britische Politik aber auf ein klar definiertes Ziel einigen, wäre das nicht nötig.
Streit um die rechtliche Bedeutung des Wortes „fortan“
Es gibt eine kleine, aber einflussreiche Gruppe von Abgeordneten und Exministern bei den Konservativen, die einen No-Deal-Brexit trotzdem um jeden Preis verhindern wollen. Angeführt von dem Hinterbänkler Dominic Grieve, einem ehemaligen Vorsitzenden des parlamentarischen Geheimdienstausschusses mit entsprechender Erfahrung, führen sie seit Dienstag eine Art parlamentarische Guerillataktik gegen die eigene Regierung. Am Dienstagabend setzten sie mit Unterstützung der Labour-geführten Opposition mit 303 zu 296 Stimmen einen Änderungsantrag zum Haushaltsgesetz durch, der die Bewilligung von Mitteln zur Vorbereitung eines No-Deal-Brexit unter Parlamentsvorbehalt stellt.
Es war laut Experten ein symbolischer Schritt, aber davon ermutigt beantragte Grieve am Mittwoch eine Veränderung der Geschäftsordnung der bevorstehenden Brexit-Debatte, um einen Antrag einfügen zu können, wonach die Regierung bei einer Niederlage innerhalb von 3 Tagen – und nicht 21, wie bisher festgelegt – neue Vorschläge in Form eines Gesetzentwurfs vorlegen müsste.
Obwohl allein die Regierung Geschäftsordnungen von Debatten festlegen darf, nahm Parlamentspräsident Bercow am Nachmittag Grieves Antrag zur Abstimmung an – und weigerte sich zu bestätigen, dass er sich zuvor die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung hatte bestätigen lassen. Das sorgte für heftige Turbulenzen; viele Redner warfen Bercow indirekt Rechtsbruch vor. Gestritten wurde unter anderem über die rechtliche Bedeutung des Wortes „fortan“ (forthwith) im Regelwerk des Parlaments.
Am Ende ging Grieves Antrag mit 308 zu 297 Stimmen durch, bevor mit mehreren Stunden Verspätung die eigentliche Debatte begann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär