Vor den Wahlen in Sachsen: Tillich lächelt nicht mehr
Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich gibt sich präsidial gereift. Doch dieser Anspruch scheint eine Nummer zu groß.
DRESDEN taz | In Leipzig ist manches anders. Das Wählerforum der Leipziger Volkszeitung kennt nur einen Gast: Ministerpräsident Stanislaw Tillich von der CDU. An diesem Abend wird es trotzdem unangenehm für ihn. Offener Unmut regt sich, als Tillich das Schulsystem mit der frühen Auslese nach der vierten Klasse verteidigt. Hartnäckige Ex-Revolutionäre des Herbstes 89 werfen ihm seine Vergangenheit in der Block-CDU vor. Als ein französischer Student ihm entsprechende Buchpassagen vorhalten will, wird er unter Tumulten von Ordnern abgedrängt
Am 30. August ist Landtagswahl in Sachsen. Doch das sei er von anderen Wahlkampfauftritten nicht gewohnt, räumt der Ministerpräsident später ein. Auch nach seiner Funktion im damaligen Rat des Kreises Kamenz frage niemand mehr. Denn die Sächsische Union feiert in diesem August eher ein harmonisches Selbstbestätigungsfest der lächelnden Plakate und der Heimspiele, als dass sie einen Wahlkampf führt. Man habe nur auf den Wähler gehört, erklärte Tillich mehrfach. "Und der mag nicht, wenn Politiker streiten!" Die sollten vielmehr vernünftige Politik machen, denke der Bürger, und Probleme lösen. Selbstverständlich unter Führung der CDU.
"Der Sachse", wie er sich auf Plakaten selber nennt, begrenzt seine Termine in der Öffentlichkeit. Weil er schon so viele Interviewtermine hat, sagt ein Pressesprecher. Die Opposition, allen voran Herausforderer André Hahn von der Linken, kritisiert, dass sich Tillich weder einem Fernsehduell noch "Elefantenrunden" stellt. "Weil die nur kleinen Parteien ein Podium verschaffen", begründet der Pressesprecher.
Die CDU aber will eine große sein, weiterhin die bestimmende Kraft in Sachsen, auch wenn es nach Umfragen weit unter 40 Prozent Wählerstimmen geben könnte. Die absolute Mehrheit der neunziger Jahre mit Kurt Biedenkopf an der Spitze leuchtet immer noch am sächsischen Himmel. Der 79-jährige Alt-Ministerpräsident ist wieder im Wahlkampf dabei, seit der Spitzenkandidat nicht mehr Georg Milbradt heißt. Auch er beklagt die "Diskontinuitäten im Stimmverhalten", die die Union vor fünf Jahren um rund 16 Prozent abrutschen ließ.
Der Traum vom Durchregieren aber hat noch andere, unbewusste Wurzeln. Tillich ist einer von vielen Unionsfreunden, die den Sprung der CDU vom SED-Vasallen in eine führende Position genossen haben. Da stören mühevolle Kompromisse in einer Koalition und aufwendige demokratische Verfahren nur. Der Ministerpräsident gibt sich im kleinen Kreis gern als mit allen Wassern gewaschener Realist. "Sie haben mich noch als den lächelnden Sorben im Blick" - doch das sei vorbei, sagt Stanislaw Tillich.
Aber gerade dieser Charme, das Lächeln, der nette Typ Schwiegersohn in spe ist es, womit der beliebteste Politiker Sachsens noch punkten könnte. Souveränität und Ausstrahlung enden an der Rampe, bei Reden und großen öffentlichen Auftritten. Mit großen Gedanken, gar Rhetorik kann Tillich nicht brillieren. In Leipzig wirkte er defensiv wie ein Student im mündlichen Examen. Aber die Initiative "Neue Soziale Marktwirtschaft" eilte ihm gerade rechtzeitig zu Hilfe und setzt Sachsen bei ihrem Bildungsmonitor auf Platz 1. Und acht Tage vor der Landtagswahl hat er ein Programm für die ersten 100 Tage vorgelegt, das wenig Angriffspunkte bietet. Viel Bildung, grüne Elemente, Ehrenamt, Kultur und Soziales. "Das liest sich, als ob wir die Feder geführt hätten", kommentiert SPD-Spitzenkandidat Thomas Jurk. Wer will da noch einen Wahlkampf führen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Neue EU-Kommission
Es ist ein Skandal
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden