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Vor aller Augen

Als Romy Schneider am 30. Oktober 1974 während der Livetalkshow „Je später der Abend“ unvermittelt zu Burkhard Driest sagte: „Sie gefallen mir. Sie gefallen mir sehr“, hielt die Fernsehnation den Atem an. Der Flirt vor laufender Kamera kam damals in seiner Skandalwirkung einem auf dem Petersplatz in Rom vollzogenen Koitus gleich.

Eine Zuschauergeneration später zeigte RTL 2 hundert Tage lang eine tägliche Sendung, in der unter anderem ein Liebespaar unter der Decke offensichtlich Sex machte. Aber es berührte kaum jemanden.

Die Kommerzialisierung der Intimität, die in den Siebzigern ihren Anfang mit den Promitalkshows machte, schien zum Jahrtausendwechsel mit „Big Brother“ einen vorläufigen Höhepunkt erlangt zu haben. Nach der „Traumhochzeit“ und „Explosiv“, nach „Schreinemakers live“ und den konfrontativen Talkshows am Nachmittag wurde von einer kritischen Öffentlichkeit das Privatfernsehen mit seinen Containerspielen „Big Brother“ oder „Inselduell“ für den endgültigen medialen Ausverkauf der Privatsphäre verantwortlich gemacht.

Bis zu Verbotsforderungen reichte der Ruf nach Maßnahmen, mit denen von Staats wegen etwas vor dem Zugriff der Kameras geschützt werden sollte, von dem freilich schon zu Romy Schneiders Zeiten niemand so recht wusste, ob sie in der Als-ob-Wirklichkeit des Fernsehens überhaupt Überlebenschancen hat: die Intimität.

Zur Frage, was mit dem Intimen eigentlich geschieht, wenn es der kommerziellen Verwertung durch Fernsehkameras ausgesetzt wird, forscht die Wissenschaft derzeit im Auftrag der Landesmedienanstalten. Die holländische Produktionsfirma Endemol hat derweil angekündigt, „Big Brother“ im nächsten Jahr fortzusetzen.

KLAUDIA BRUNST

Klaudia Brunsts – leicht gekürzter – Text erschien erstmals im „Programmbericht zur Lage und Entwicklung des Fernsehens in Deutschland 2000/2001“, herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten, UVK Medienverlagsgesellschaft, Konstanz 2001, 442 Seiten, 28 Euro.

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