Vor Einigung bei der Volksgesetzgebung: Mehr Rechte für Bürgerbegehren
Verein Mehr Demokratie stimmt Reform von Bürgerentscheiden zu. Bürgerschaft wird dies einstimmig Ende Januar tun. Die Quoren aber bleiben strittig
HAMBURG taz | Am Ende gab es doch eine klare Mehrheit für eine Reform des Bürgerbegehrens. Mit gut 60 Prozent Zustimmung akzeptierte die Mitgliederversammlung des Vereins Mehr Demokratie im Rudolf-Steiner-Haus am Mittelweg die Einigung, welche ihre Verhandlungskommission mit den fünf Fraktionen von SPD, CDU, GAL, FDP und Linken in der Bürgerschaft erzielt hatte. Am Montag soll auf einer abschließenden Sitzung der Unterhändler im Rathaus das Papier beschlossen werden. Am 25. Januar könnte, so die bisherige Planung, die Bürgerschaft die gesetzlichen Neuregelungen verabschieden.
Zuvor hatten sich die knapp 50 anwesenden Mitglieder von Mehr Demokratie am Donnerstagabend eine mehrstündige hitzige Debatte geliefert. Äußerungen wie der Kompromiss mit dem Parlament sei "nicht direkt-demokratisch, höchstens die Ouvertüre dafür" oder das sei "nicht das Gesetz, das wir wollen" zählten zu den moderaten Kritiken. Schärfere Gegner sprachen von "einer Zumutung", einige warfen ihrem Verhandlungsführer Manfred Brandt gar vor, mit der Politik "zu kungeln" und Bürgerentscheide "zu hintertreiben". Brandt sei, so der Vorwurf, "nicht diskussionsfähig".
Brandt, der seit 1997 für die direkte Demokratie in Hamburg kämpft und als einer der Väter der Volksgesetzgebung gilt, blieb gelassen. Nicht alles habe erreicht werden können, was Mehr Demokratie gern gehabt hätte, räumte er ein. Das Recht des Senats, bezirkliche Entscheidungen an sich zu ziehen - das sogenante Evokationsrecht - sei als Bestandteil der Hamburger Verfassung "nicht einfach so wegzuverhandeln", so Brandt. Auch das Ansinnen, Hamburg als "Einheitsgemeinde" aufzulösen, sei nicht realistisch. Eine Aufspaltung des Bundeslandes Hamburg würde die sieben Bezirke zu eigenständigen Kommunen machen und damit Bürgerentscheide juristisch aufwerten.
Die direkte Demokratie in Hamburg gibt es auf Landesebene und auf Ebene der Bezirke. Sie wurde 1998 auf Betreiben des Vereins Mehr Demokratie durch einen Volksentscheid eingeführt.
Land: Das dreistufige Verfahren umfasst das Sammeln von Unterschriften bei Volksinitiative und Volksbegehren. Im dritten Schritt, beim Volksentscheid, ist eine Zustimmung von mindestens 20 Prozent der Abstimmungsberechtigten- nicht der tatsächlich Abstimmenden - erforderlich.
Prominente Beispiele: Landesbetrieb Krankenhäuser (2004), Schulreform (2010), Unser Netz (vermutlich 2013)
Bezirke: Hier gibt es ein zweistufiges Verfahren. Das Bürgerbegehren braucht die Unterschriften von mindestens zwei Prozent der Abstimmungsberechtigten. Beim Bürgerentscheid reicht die einfache Mehrheit der Abstimmenden.
Prominentestes Beispiel: Für und Gegen Ikea (2010)
Dennoch könnten sich die Erfolge nach rund zweijährigen Verhandlungen sehen lassen, referierte Brandt. Rechtliche Prüfungen von Bürgerbegehren würden künftig früher und effektiver erfolgen, Bürgerentscheide würden öffentlich ausgezählt und dadurch besser kontrollierbar. Zudem sollen die Initiativen eine Kostenerstattung erhalten und für Plakate dieselben Rechte wie Parteien, die Plakate könnten also nicht mehr an unattraktive Stellen verbannt werden.
Bei Streitigkeiten werde es eine Schlichtungsstelle, bei Bedarf ein Moderationsverfahren und in letzter Konsequenz ein Klagerecht gegen Senat und Behörden geben. "Das alles schafft mehr Verfahrens- und Rechtssicherheit", strich Brandt heraus. "Dieses Ergebnis ist gut für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide."
Zudem sei es gelungen, die Forderung nach Quoren abzuwehren. "Das ist für uns nicht akzeptabel", stellte Brandt klar, die Bürgerschaftsfraktionen hätten das hinnehmen müssen. Mindestzahlen seien "der Tod dieses Instruments", sagte Brandt. Unter diesen Voraussetzungen wären einige Bürgerentscheide der Vergangenheit nicht zustande gekommen.
So hatten beim Bürgerentscheid über einen Bebauungsplan in Langenhorn im vorigen Oktober nur etwa 14 Prozent teilgenommen - rund zehn Prozent aller Abstimmungsberechtigten konnten das Projekt kippen, weil das Thema rund 85 Prozent im Bezirk Nord nicht interessierte. Bei einem Bauvorhaben am U-Bahnhof Hoheluftchaussee lag die Beteiligung im Sommer 2010 bei lediglich 23,3 Prozent, die siegreiche Mehrheit repräsentierte somit nur 16,1 Prozent aller Abstimmungsberechtigten. Von "Partikularinteressen" wollen Brandt und Mehr Demokratie gleichwohl nicht sprechen.
Die Zustimmung aller fünf Bürgerschaftsfraktionen gilt als sicher. Die FDP kündigte jedoch einen Zusatzantrag an, der ein Abstimmungsquorum von 20 Prozent fordert. Auch in SPD, CDU und GAL wird ein solcher Schritt diskutiert. "Da darf es kein Denkverbot geben", sagt die grüne Parteichefin Katharina Fegebank. Zunächst aber, stellt SPD-Fraktionschef Andreas Dressel klar, "werden wir die Einigung nicht platzen lassen".
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