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Archiv-Artikel

Von wegen Genie, Dichter arbeiten

Das „Prosanova“-Festival in Hildesheim ist Teil einer neuen studentischen Kultur des Schreibens, die in Deutschland noch immer Misstrauen erweckt

Kann man Literatur lernen? Ja, mit Sicherheit, irgendwie schon. Kann man das Schreiben von Literatur lernen? Auf gar keinen Fall. Das jedenfalls ist der erste Reflex. Denn gerade in Deutschland steckt hinter einer Kunstauffassung noch immer und mit großer Absolutheit der Geniegedanke; der Gedanke des schöpferischen Geistes, der, abgesondert von der Masse, Großes hervorzubringen in der Lage ist und damit auch noch in die Mitte der Gesellschaft zu zielen vermag.

Kunst im Allgemeinen und Literatur im Besonderen hatte, zumindest bis vor nicht allzu langer Zeit, genial zu sein, nicht mehr und nicht weniger. Dass die Produktion ästhetischer Werke jedoch technische Grundlagen hat – diese Einsicht setzte sich erst in der jüngeren Vergangenheit nach und nach durch; bedingt durch den Umstand, dass auch Schriftsteller bekannten, ihre Tätigkeit sei harte Arbeit und nicht einfach nur das Warten auf den schöpferischen Moment.

In den USA haben sich die sogenannten Creative-Writing-Kurse an den Universitäten längst als ein anerkanntes Studienfach etabliert, und auch in Deutschland gibt es heute zumindest zwei Hochschulen, an denen die Arbeit am literarischen Werk gelehrt wird: das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig und der Bachelorstudiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Als „Schreibschulen“ lassen sich beide Institute ungern bezeichnen; nicht zuletzt, weil der Begriff „Schreibschulenliteratur“ schnell zum negativen Wertungsurteil der Literaturkritik geworden ist; nicht immer zu Unrecht. Denn in einem Punkt hat sich durch jene Studiengänge das Berufsbild des Schriftstellers in der Tat gravierend gewandelt: Hatte ein Schriftsteller in früheren Zeiten zunächst einmal ein Werk, mit dem er, vorausgesetzt, er fand einen Verlag, in den Literaturbetrieb eintrat, ist ein Absolvent aus Leipzig oder Hildesheim heute bereits breit vernetzt und orientiert. Die Dozenten und Professoren sind etablierte Schriftsteller mit besten Kontakten: Hanns-Josef Ortheil in Hildesheim; Josef Haslinger, Hans-Ulrich Treichel oder Michael Lentz in Leipzig. Dass diese frühe Einordnung in eine den Moden und Diskursen unterworfene Szene ästhetische Eigenständigkeit fördert, darf bezweifelt werden.

Die Ausrichtung der Studiengänge in Hildesheim und Leipzig ist durchaus unterschiedlich: Während man sich in Hildesheim und der dort entstehenden Zeitschrift Bella Triste gerade in den vergangenen Jahren eher dem Experiment und der Lyrik widmet (im Jahr 2007 erschien ein umfangreiches Sonderheft zum Stand der deutschen Gegenwartslyrik), zielt man in Leipzig tendenziell auf die Prosa. Zur „Verzahnung von Theorie und Praxis“, wie es in Hildesheim als Ziel ausgegeben wird, gehört auch das Literaturfestival „Prosanova“, das von den Studierenden eigenverantwortlich organisiert wird, während die Leipziger Studenten die Gelegenheit haben, sich und ihre Arbeit auf der Frühjahrsbuchmesse vor Ort oder der Zeitschrift EDIT. Papier für neue Texte zu präsentieren.

Der Vorwurf der Eintönigkeit, der gerade den Leipziger Absolventen immer wieder gemacht wird, ließe sich schon durch die Bandbreite der Texte widerlegen, deren Autoren inzwischen auch viel gelesen und gepriesen sind: Clemens Meyer hat ebenso dort studiert wie Juli Zeh, Ricarda Junge, Martina Hefter oder Steffen Popp. Das Problem an den sogenannten Schreibschulen, so darf man folgern, liegt nicht in ihnen selbst, sondern in den Verlagen, die unter dem Etikett „Junge Gegenwartsliteratur“ und auf der Jagd nach Entdeckungen auch den schwachen Texten, der echten Schreibschulenliteratur, eine Chance zur Veröffentlichung geben. CHRISTOPH SCHRÖDER