: Von vielem gibt's zuwenig
■ Sechs Monate nach dem Machtwechsel im Sowjetsport: In der Praxis tut sich nix
Moskau (dpa) - „Das Land braucht gesunde Menschen, besonders jetzt, im Zeitalter der größten sozialen Umwälzungen. Deshalb gebe ich in meinem Programm dem Breitensport den Vorrang.“ Schöne Worte vom neuen Vorsitzenden des staatlichen sowjetischen Sportkomitees, Nikolai Russak, der den gescheiterten Marat Gramow als oberster Sportchef ablöste.
Ein halbes Jahr später sind keine Veränderungen festzustellen. Die enorme Zahl von 350.000 Berufsfunktionären unter Russaks Kommando ist nicht in der Lage, die Chancen der Bevölkerung für eine sportliche Betätigung zu verbessern. Als unüberwindliche Hürden haben sich Probleme erwiesen, die seit Jahren ungelöst blieben. Das größte ist der chronische Mangel an modernen Sporteinrichtungen.
Moskau ist im Gegensatz zur Provinz immer noch am besten gestellt. Doch auf neun Millionen Einwohner entfallen nur 80 Schwimmbäder, von denen knapp die Hälfte Ämtern und Ministerien gehört. Aber auch für die restlichen 45 Bäder ist der Zutritt schwierig. Wochen vor Beginn der Saison wird nach Abonnements angestanden, oft auch nächtelang. Es mag unwahrscheinlich klingen, aber vier Stadtbezirke mit mehreren 100.000 Einwohnern verfügen über kein einziges Schwimmbad. Nicht besser ist die Lage beim Tennis: 350 Plätze können die Wünsche aller Anwärter nicht im geringsten befriedigen. Im Winter ist das Problem schier unlösbar. Die wenigen Hallen stehen ausschließlich Leistungssportlern zur Verfügung.
Wer glaubt, es gäbe wenigsten genug Fußballfelder, der täuscht sich. Es sind genau 670. Gute Plätze sind zu teuer, andere genügen nicht den Mindestanforderungen. Deshalb kicken die Fußballfreunde vornehmlich auf Straßen, Plätzen und in Hinterhöfen. Es stimmt, Moskau hatte für die Olympischen Spiele 1980 die Infrastruktur seiner Sportanlagen verbessert. Aber 94 Stadien und 22 Sporthallen sind ein Tropfen auf den heißen Stein.
Negativ auf den Breitensport wirkte sich auch die Einführung der sogenannten wirtschaftlichen Rechnungsführung aus. Seither muß überall und für alles gezahlt werden, und die Preise sind nicht niedrig: Eine Stunde Tennis drei bis acht Rubel (9 bis 24 Mark), für die Teilnahme am Moskau -Marathon mußten gar zehn Rubel (30 Mark) berappt werden. Kinderabonnements in Tennisklubs wurden erhöht, die Eintrittspreise für Schwimmbäder verdoppelten sich. All dies bei einem Durchschnittsverdienst von 200 Rubel (600 Mark) im Monat. Für Familien ist es noch schwerer. Eine einfache Kalkulation ergibt, daß ein vierköpfiger Haushalt monatlich mindestens 50 Rubel (200 Mark) braucht, wenn sie dreimal pro Woche Sport treiben will - ein Viertel des Familienbudgets.
Probleme auch bei Sportgerät, Schuhen und Bekleidung. Das Angebot in den Läden ist äußerst knapp. Altmodische Trainingsanzüge, T-Shirts in blassen Farben, schwere Sportschuhe, mit denen man praktisch nicht laufen kann, das ist alles, was die Sowjetindustrie den Sportlern bietet. Im Sommer gibt es keine Tennisschläger, ebensowenig Bälle für Tennis oder gar Federball. Im Winter mangelt es an billigen Skiern oder Bindungen. Kürzlich erklärte Russak, der Staat habe für Maschinen zur Herstellung von Sportgeräten und Bekleidung 74 Millionen Rubel (225 Millionen Mark) in Devisen bereitgestellt. Doch beim Bautempo in der UdSSR wird man mindestens ein Jahr auf die ersten Produkte warten müssen.
Auch Versuche des Staatskomitees für Körperkultur und Sport, Strukturveränderungen vorzunehmen, haben noch keinen Erfolg. So wurde eine Sportgesellschaft der Gewerkschaften gegründet, die „für Sport am Wohnort“ zuständig ist. Doch schnell war es mit dem Elan der Funktionäre vorbei. Auch die neue Organisation erwies sich als typische Einrichtung des Bürokratenapparates: Viele Worte, aber kaum Taten.
Juri Iwanow
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