Von der reinen Vernunft zum Alzheimer

Die ersten Kant-Biographien liegen in einer neuen Ausgabe vor  ■ Von Roland Große Holtforth

Thomas de Quinceys Essay „Die letzten Tage des Immanuel Kant“, erstmals 1862 erschienen, war eine doppelbödige literarische Attacke auf den großen Philosophen. De Quincey, der „englische Opiumesser“, bediente sich bei seinen Schilderungen einer mit Bedacht gewählten Maske. Er trat als vertrauenswürdiger Chronist auf, um dann, im Schutze der Neutralität, ordentlich Sand ins aufgeklärte Getriebe des Königsberger Philosophenlebens streuen zu können.

Dabei griff er ausdrücklich auf Texte zurück, die nun erstmals seit 1912 wieder gesammelt greifbar sind: „Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen“ umfaßt die Aufzeichnungen dreier Autoren, auf die sich alle späteren Kant-Biographen immer wieder, wollten sie Authentisches berichten, beziehen mußten – die kurz nach Kants Tod veröffentlichten Biographien von Ludwig Ernst Borowski, Reinhold Bernhard Jachmann und Ehregott Andreas Christoph Wasianski.

Insbesondere auf Wasianskis Zeugnisse berief sich de Quincey. Hier tritt nämlich in brutalster Konkretion zutage, was jeden philosophisch kundigen Leser bewegen muß: Kants Altersschwachsinn. Wasianski diente Kant in dessen letzten Jahren als Berater und hilfreicher Freund, übernahm schließlich de facto die Aufgaben eines Vormundes, denn der von ihm so bewunderte Professor war immer weniger Herr seiner Sinne und Gedanken. Der „Pfleger“ dokumentierte mit buchhalterischer Akribie Gedächtnisschwund, Desorientierung, Paranoia, Infantilität und schließlich die zunehmende Unfähigkeit Kants, selbst seine Nächsten zu erkennen. Trauriges Altersschicksal? Grausamer Zufall des Naturverlaufs? Genetisch verursachte Geistesschwäche? Vielleicht. Die Lektüre de Quinceys legt jedoch etwas anderes nahe. De Quinceys Schrift lebt von der Suggestion, daß die gesetzte Lebensart des Professors, so klar und schlüssig all seine Schriften auch komponiert sein mochten, letztlich in die strukturlose Erschöpfung des Pedanten, in all die genannten Symptome des „senilen Alzheimer“ münden mußte.

Es ist de Quinceys Pointe, daß ein Leben, in dem die philosophische Ordnungsleidenschaft alle anderen Leidenschaften übertraf, im Mechanischen erschlaffen und schließlich gequält auslaufen mußte. Es konnte kein plumper Zufall sein, daß das Greisenalter im Kopf des Philosophen wirksam werden ließ, was er sein ganzes vorheriges Leben gemieden, ja mit aller Kraft bekämpft hatte und in seinen Schriften weganalysiert hatte – das Unschlüssige, das Zusammenhanglose, bloß Nebeneinanderstehende, mit einem Wort: die parataktische Unordnung.

„Kants Beschäftigungen in den letzten beiden Wochen seines Lebens waren nicht bloß zwecklos, sondern zweckwidrig. Bald mußte die Halsbinde in einer Minute mehrmals abgenommen und umgebunden werden. Eben dies war der Fall mit einem Tuche, das er seit vielen Jahren statt einer Passe über seinen Schlafrock zu binden gewohnt war. Sobald er letzteren zugehakt hatte, öffnete er ihn wieder mit Ungeduld, und sogleich mußte er wieder zugemacht werden.“

Und nicht nur seine Handlungen wurden immer unzugänglicher, unübersetzbarer, auch Kants Reden. Er begann in Rätseln und abstrusen Metaphern zu sprechen, also genau das zu tun, was er in seinen Schriften stets vermieden hatte. Wasianski notiert: „Es gehörte ein täglicher Umgang mit ihm dazu, um diese seine so uneigentliche Sprache zu verstehen.“

Es scheint, als ob Kant dazu verdammt gewesen wäre, als Greis all das zu durchleiden, wofür sein großer Widerpart, der Hammerphilosoph Nietzsche, erst Jahrzehnte später Worte finden sollte: in seinen Handlungen das Gesetz der ewigen Wiederkehr, in seinem Sprechen die Unhintergehbarkeit des Metaphorischen.

Sicherlich: Eine simple Kausalität zwischen philosophischer Systematik und der späteren Senilität ihres Urhebers herzustellen scheint reichlich platt. Und doch wird man den Gedanken an einen möglichen Zusammenhang nicht los. Vielleicht lassen sich die Protokolle des Niedergangs mit einem Satz unterlegen, den Kant einst, vom Schwachsinn weit entfernt, als „Grundsatz der allgemeinen Naturlehre“ prägte: Der nämlich besagt nichts weniger, als „daß (in der Natur) nichts von ungefähr geschehe“. Magister dixit?

Felix Gross (Hrsg.): „Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 271 Seiten, 49 DM.

Thomas de Quincey: „Die letzten Tage des Immanuel Kant“. Aus dem Englischen von Cornelia Langendorf. Matthes & Seitz Verlag (1984), 143 Seiten, 19,80 DM