■ Von den Folgen der Tour de France: So wird's kommen
So wird's kommen: Die in diesen Tagen und Nächten in den Ferienorten und zu Hause vor den Bildschirmen gezeugten deutschen Knaben werden Jan-Ullrich heißen. Nicht Jan und nicht Ullrich, sondern Jan-Ullrich. Alle. Und aus allen wird ein Ausnahmeradfahrer, da sind sich die stolzen Eltern sicher und arbeiten daran. „Jan- Ullrich, hast du heute deinen Laktatwert schon gemessen?“ – „Nein, Mutti, ich bin doch erst fünf.“ Bis es soweit kommt, gehen die Jahre ins Land, und die Eltern, die zugleich Trainer und engste Vertraute ihres Sprößlings sind, überlassen nichts dem Zufall.
Aus hautengem Satin sind die Strampelhöschen der zwei, drei, vielen Jan-Ullrichs, um bereits früh den Luftwiderstand auf das physikalisch mögliche Minimum abzusenken. Auch beim Spracherwerb steht das große Ziel vor Augen: „Sag mal Bergwertung, Jan- Ullrich.“ „Brgpfwgld.“ Die Mahlzeiten werden von Anfang an im gelben Lätzchen des Spitzenreiters eingenommen, damit die Winner- Mentalität Wurzeln schlagen kann in der kindlichen Seele. Bald ist eine Leistungskindertagesstätte mit eigenem Velodrom und bergigem Hinterland gefunden, die zu diesem Zeitpunkt längst überall aus dem Boden geschossen sein werden. Und die ganze Verwandtschaft fiebert mit, hilft mit. Durch ausgeklügelte Geschenke wie Hanteln, Trimmräder, Helme, motivierende Literatur („Fünf Freunde haben eine Reifenpanne“) und vielen, vielen Anrufen, um immer zu wissen, welche Sprosse auf dem Weg zur Weltspitze in der letzten Woche wieder erklommen wurde.
Bis, ja bis Jan-Ullrich, mittlerweile im neunten Jahr, eines Tages flennend aus der Schule nach Hause kommt und das geblümte Trikot von Omas Lieblingsenkel in die Ecke feuert und den ergodynamischen Integralhelm noch dazu und nicht wie sonst seine Zeit, die er für den Heimweg gebraucht hat, in sein Trainingslogbuch einträgt, sondern brüllt. „Ich will nicht die Turdefronß gewinnen, ich will nicht, ich will nicht.“
Besorgt befragt, worin denn dieser plötzliche Stimmungsumschwung seine tiefere Ursache habe, erklärt der Modellathlet der Zukunft, daß er sein pixelbeschichtetes, steigungsagiles Tremolorad mit dem Senkerlenker und den doppelt vermufften Leichtlaufnaben, das nicht ganz billig war, heute morgen gegen eine Modelleisenbahn eingetauscht habe, und sein bester Freund, der Jan-Ullrich aus dem Nachbarhaus, nicht sonderlich sprintstark, aber ein reizender Kerl, der fange jetzt an mit Fußball, das wolle er auch, und die Mädchen in der Klasse fänden Radfahren Scheiße.
„Weißt schon, daß das die Omi ins Gras bringt“
Nach der ersten Schockphase, in der sich Vater und Mutter weinend gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben und – schlimmer noch – die Haare ausraufen, stellen sie fest, daß weder ökonomischer („Und was willst du später mal machen? Vielleicht Lokomotivführer?“) noch moralischer („Weißt schon, daß das die Omi ins Gras bringt.“) Druck etwas fruchtet, werden die Eltern schließlich einsehen, daß dieser Blütentraum nicht Reifen, äh, reifen wird und nunmehr Mutter- und Vaterherz, aber keine Stundenweltrekorde mehr gebrochen werden.
Alsbald organisieren sich Selbsthilfegruppen („Eltern ehemaliger zukünftiger Radprofis in Not“), und der Gebrauchträdermarkt wird überschwemmt mit Tremolorädern. So wird's kommen, hundertfach, tausenfach. Niemand kann es verhindern, jeder hat es gewußt. Und die Mädchen heißen alle Jana-Ulrike. Ralf Oberndörfer
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