: Von Rambouillet nach Heiligendamm
Beim ersten Weltwirtschaftsgipfel 1975 in einem Schloss bei Paris gab es weder Demonstranten noch Absperrungen Seit der Gewalt in Genua 2001 schotten sich die G-8-Gipfel von ihren Kritikern ab. Die Protestbewegung hat daraus gelernt, dass sie vereint auftreten muss
VON ANDREAS ZUMACH UND FELIX LEE
Als Frankreichs Präsident Valéry Giscard d’Estaing Anfang Oktober 1975 seinen US-Amtskollegen Gerald Ford, den deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt sowie die Regierungchefs von Japan, Großbritannien und Italien im Jagdschloss Rambouillet bei Paris zum ersten „Weltwirtschaftsgipfel“ empfing, gab es keine Demonstranten, keinen Absperrzaun, keine Spekulationen über Anschläge. Sicherheitskosten und die Zahl der akkreditierten Journalisten lagen bei jeweils unter zehn Prozent der heutigen Zahlen.
Initiiert wurde das Treffen der G 6 – Kanada kam erst 1979 dazu, Russland 2001 – vor 32 Jahren, mehrere Jahre nachdem die USA das System fester Wechselkurse zwischen den wichtigsten Währungen aufgekündigt hatten und nach der ersten großen Ölkrise von 1973. Bis Anfang der 80er-Jahre war es das Hauptanliegen der G-6/7-Gipfel, die Weltwirtschaft mittels politischer Absprachen zwischen den drei ökonomischen Zentren Nordamerika, Westeuropa und Japan zu stabilisieren. Eines der wichtigsten konkreten Ziele, das allerdings nie erreicht wurde, war die Wiedererlangung der Vollbeschäftigung, deren Zeit Anfang der 70er-Jahre in fast allen Industriestaaten des Nordens zu Ende ging. Angesichts von Erwerbslosenraten von damals rund drei Prozent formulierten die sechs Gipfelteilnehmer von Rambouillet 1975 in ihrem Abschlusskommuniqué: „Unsere dringendste Aufgabe ist es, die Erholung unserer Volkswirtschaften sicherzustellen und die Vergeudung menschlicher Arbeitskraft infolge Arbeitslosigkeit abzubauen.“
Doch auch schon in dieser ersten Phase befassten sich die „Weltwirtschaftsgipfel“ mit anderen Themen – 1977 mit der Atomenergie, 1980 mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan oder 1983 mit der Stationierung neuer Atomraketen in Westeuropa. Aus dieser allmählichen Verbreiterung des Themenspektrums ergab sich dann auch, dass die Gipfel Fokus von Protestveranstaltungen wurden. Der Bonner Gipfel 1985 gilt als die Geburtsstunde der Proteste gegen die Treffen der Staats- und Regierungschefs der mächtigsten Industrieländer der Welt.
Über 25.000 Menschen demonstrierten 1985 im Bonner Hofgarten. Es war die Zeit der Friedens- und Umweltbewegung, Globalisierungskritik hieß Internationalismus und Unterstützung von Befreiungskämpfen in Zentralamerika und dem südlichen Afrika. Ein breites linkes Bündnis organisierte einen Alternativgipfel, der vor allem von christlichen Gruppen, Grünen, DKP sowie Teilen der autonomen Szene getragen wurde.
Von Anfang der 80er-Jahre bis etwa 1996 standen die Weltwirtschaftsgipfel ganz im Zeichen von „Aufstieg und Triumph des Neoliberalismus“, wie Attac-Führungsmitglied Peter Wahl sagt. Die Liberalisierung des Handels und der Finanzmärkte, die Deregulierung der Arbeitsmärkte, sozialen Sicherungssysteme und öffentlichen Dienstleistungen, die Steuerentlastung von Unternehmen – all dies wurde im Rahmen der damals noch G 7 diskutiert und koordiniert.
In dieser Ära des Neoliberalismus gewann der Gipfelwiderstand erst an Fahrt und sackte schließlich nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989/90 vorerst in sich zusammen. 1989 in Paris wurden die Gipfelproteste erstmals Massenproteste. Über 100.000 Menschen demonstrierten, zum Alternativgipfel wurden erstmals auch Vertreter der sieben ärmsten Länder eingeladen. Diese Idee wurde in späteren Jahren von den Organisatoren der offiziellen Gipfel übernommen.
München 1992 war hingegen ein absoluter Tiefpunkt. Gerade einmal 3.000 Gipfelgegner machten sich auf den Weg in die bayerische Landeshauptstadt, 500 davon wurden stundenlang eingekesselt. Das waren immerhin noch mehr, als der Alternativkongress an Teilnehmern zählte.
Während der Gipfelwiderstand dahinsiechte, nahmen die G-7/8-Runden seit Mitte der 90er-Jahre immer mehr Themen auf. Terrorismus, Aidsbekämpfung, regionale Konflikte, Rüstungskontrolle, Korruption, organisierte Kriminalität, Energiesicherheit – kaum ein Thema, mit der sich die G 8 inzwischen nicht schon befasst hätte. Besonders deutlich wurde dies seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, als die Runden auch den Charakter einer gegenseitigen Selbstbestätigung der wichtigsten Führer der „westlichen Welt“ annahmen.
Es dauerte, bevor auch der Protest zu neuem Leben erwachte. Erst 1998 in Birmingham ging wieder eine nennenswerte Anzahl Demonstranten gegen einen Weltwirtschaftsgipfel auf die Straße: Mehr als 70.000 demonstrierten für einen Schuldenerlass der ärmsten Länder. Ergebnis war die Kampagne „Jubilee 2000“, die mehr als 24 Millionen Unterschriften zusammenbrachte. Und das Schuldenthema stand erstmals auch auf dem offiziellen Gipfel auf der Agenda, woraus 1999 in Köln die Entschuldungsinitiative HIPC (Highly Indebted Poor Countries) wurde, bis heute die größte international koordinierte Schuldenstreichungsaktion.
Der Kölner Gipfel 1999 war aus Sicht der Bewegung allerdings
ein mediales Fiasko, obwohl zur Auftaktdemonstration 50.000 Teilnehmern kamen. Bei der Abschlusskundgebung blieb gerade einmal ein Fünftel der ursprünglich angereisten Teilnehmer übrig. Kaum einer in Deutschland ahnte, dass nur ein halbes Jahr später auf der Tagung der Welthandelsorganisation im kanadischen Seattle die Geburtsstunde der militanten internationalen globalisierungskritischen Bewegung schlagen sollte.
Das Abgleiten in Gewalt dominierte auch den G-8-Gipfel im italienischen Genua 2001. Der Grad an Militanz bei vielen DemonstrantInnen, die Polizeigewalt, aber auch die schiere Größe des Protestes, an dem mehr als 300.000 Menschen teilnahmen, überwältigte viele AktivistInnen. Die gesamte Altstadt Genuas war abgeriegelt, es tobten die Straßenschlachten. Der 23-jährige Carlo Giuliani wurde von einem Polizisten erschossen. Noch Monate später waren deutsche AktivistInnen in Haft.
Die globalisierungskritische Bewegung nicht nur in Deutschland bekam jedoch einen enormen Auftrieb, und die G-8-Staatschefs verlegten ihre Treffen nun an entlegenere Orte. Gegen den Gipfel auf der japanischen Insel Okinawa 2002 demonstrierten trotzdem 27.000 Menschen. Auch im kanadischen Edmonton kam es 2003 zu massiven Protesten gegen das G-8-Treffen im abgelegenen Wintersportort Kananaskis. Der Protest gegen den Gipfel im französischen Evian vereinte 30.000 TeilnehmerInnen.
Wiederum eine Zäsur stellte der Gipfel von Gleneagles in Großbritannien 2005 dar. Erstmals organisierten Kritiker ihre Proteste fast in Symbiose mit der gastgebenden Regierung, die sich unter Tony Blair an die Spitze der Forderung für mehr Entwicklungshilfe und Schuldenstreichung stellte. Der Protest erreichte Ausmaße, die an die von Genua heranreichten; der radikale Teil der Bewegung warf den NGOs jedoch vor, sich von Tony Blair vereinnahmen zu lassen, und ging auf Distanz. Der Terroranschlag vom 7. Juli in London zu Beginn des Gipfeltreffens lenkte die mediale Aufmerksamkeit dann völlig von den Protesten ab.
Heute haben die Protestbewegungen daraus gelernt. NGOs und radikale Gruppen haben sich vorgenommen, den Protest um jeden Preis wieder unter ein gemeinsames Dach zu bringen. Bisher deutet alles darauf hin, dass die Strategie in Heiligendamm aufgeht.
Was die offizielle Gipfelagenda angeht, steht auch sie noch immer unter dem Eindruck von Gleneagles – und muss sich zunehmend der Frage stellen, ob die G-8-Gipfel angesichts der steigenden Bedeutung von China und Indien überhaupt noch ein relevantes Forum für globale Zukunftsfragen sein können.
Dennoch ist die Wirkungsmacht der Treffen nicht zu unterschätzen. Zwar repräsentieren die G-8-Staaten lediglich 13 Prozent der Weltbevölkerung, aber immer noch 50 Prozent der Weltwirtschaft. Anders als der UN-Sicherheitsrat können sie mangels formeller Legitimation lediglich Vereinbarungen untereinander treffen und keine für den Rest der Welt verbindliche Beschlüsse. Dennoch sind sie zu einem unverzichtbaren Bestandteil der internationalen Diplomatie geworden, der Themen setzt, diplomatisches Abtasten erleichtert und auf einzelnen Politikfeldern die Akteure zu koordiniertem Handeln zwingt.