■ Von Kinderbischöfen, dem Karneval, der subversiven Kraft des Spiels und der Entdeckung des Anfangs: Absolute Beginners
475 Jahr vergingen, bis in Hamburg erstmals wieder Kinderbischöfe gewählt wurden. Einst durften die Kinderbischöfe vom 6. bis 28. Dezember auf einem goldenen Thron im Dom der noch katholischen Hansestadt Platz nehmen. Sie führten einen Kinderumzug durch die Stadt und stifteten zum Schabernack an. Wegen ihrer Spottverse wurden ihnen zuweilen Wasser und Brot oder gar die ewige Verweisung aus der Stadt angedroht. Im Mittelalter gab es sie überall in Europa: Geckenbischöfe, Narrenbischöfe, Kinderbischöfe.
Die evangelische Kirche in Hamburg will diese Tradition wiederbeleben. Sie erhofft sich davon, was ihr selbst so schwerfällt: Subversion. Wie Narrenbischöfe im Mittelalter sollen Kinder jene Wahrheiten über unsere „Zu-vieli- sation“ aussprechen, die Erwachsene nicht mehr formulieren, wenn sie in ihrer Komplizenschaft mit der fertigen Welt hoffnungslos „Verwachsene“ geworden sind.
Bis zum Ende ihrer ersten „Amtszeit“ am 28. Dezember sammelten die ersten neuzeitlichen Kinderbischöfe auf Hunderten von Wunschzetteln Vorschläge der Kids, wie sie Leben wollen. Sie wünschen sich Räume und Zeiten zum Spielen. Sie fordern weniger Autos. Um den Verkehr aufzuhalten schlagen sie vor, auf Kreuzungen zu spielen. Sie verlangen neue Rituale und kritisieren, daß auf große Reden gewöhnlich nichts folgt. Sie fordern, daß man etwas anfängt.
Etwas „Anfangenkönnen“, das war für Hannah Arendt der Inbegriff von Politik. Nicht weitermachen und bloß ausführen, sondern anfangen. Hannah Arendts Philosophie der Politik drängt sich geradezu auf, wenn sich Kinder zu Wort melden. Denn Politik ist eben nicht das, was wir fälschlicherweise „Politik“ nennen: Verwaltung, Gewalt und all die tristen Stücke auf der Bühne der Staatsschauspieler. Zur Politik, schrieb Hannah Arendt, befähigt uns unsere „Natalität“, unsere „Geburtlichkeit“. Wir kommen fremdelnd als Neulinge auf die Welt, und nur weil wir zum Anfänger verurteilt sind, sind wir auch zur Erneuerung in der Lage, also fähig, immer wieder zur Welt zu kommen.
Aber wie?
Zum Beispiel mit solch karnevalischen Ritualen, wie es Kinderbischöfe einmal darstellten. Deren Tage waren im Mittelalter ja nur einige von vielen karnevalistischen Zeiten, die man nicht als Ventil einer repressiven Toleranz abtun kann. Jahrhundertelang haben etwa die Bischöfe der Kathedrale von Notre-Dame gegen die alte Sitte gekämpft, am 1. Januar einen Esel in die Kirche zu führen. Man tanzte um ihn herum. Es wurde getrunken und gegessen. Und wenn jemand „Dominus vobiscum“ rief, „Gott sei mit Euch“, dann antworteten alle mit „Ia! Ia! Ia!“ Das war nicht blasphemisch. Man glaubte an einen Gott, der lacht.
Dem Anfänger gilt die Verachtung und das Mißtrauen unserer Kultur. Er hat in ihr nur als Kind oder als Stümper Platz. Den Anfänger sollten wir immer so schnell wie möglich hinter uns lassen, um fertig zu werden. Nur das gilt etwas, was sich bald in die Scheunen des Nutzens einfahren läßt. Alles andere sei Spielerei. So lautet die Grammatik der Industriegesellschaft. Aber mit dem Verlust von Spielräumen verzichtet unsere Zivilisation auf jene Zwischenräume, in denen sich Neues entwickelt.
Es sieht zunächst nach Klischee aus, daß die Kritik an der Macht der Autos und am Zerfall der Stadt im Zentrum des Katalogs steht, den die Hamburger Kinderbischöfe vom 6. bis 28. Dezember zusammengetragen haben. Aber tatsächlich ist das Automobil das Medium einer Alltagsreligion der Flucht: Weg, weg, sich bloß nicht auf verschlungene Wege wagen. Auch die großen Ziele sind nur Vorwand zur Raserei und für die Begradigung aller Wege. Ziele werden eben nicht erreicht. Denn kommt jemand an, dann ruft es wie in der Fabel vom Hasen und Igel „ick bin all do“, und weiter hetzt der Hase.
Der horizontalen Flucht im Straßenverkehr entspricht die vertikale Flucht, die man Karriere nennt. Auch dort gilt: Weg, weg, oben könnte es besser sein.
Das sind Rituale der Ausbeutung anderer und der Aufzehrung eigener Kräfte. Firmen, die auf die Ideen ihrer Mitarbeiter angewiesen sind, definieren Karriere längst anders: „Wenn einer etwas gut kann, dann soll er das Team wechseln und in einem anderen Team wieder Anfänger werden. Immer wieder neu anfangen, und das auf immer höherem Niveau, mit immer größerem Spielraum.“ So beschreibt Jürgen Fuchs, Generalbevollmächtigter der Informatik- und Beratungsfirma Ploenzke AG (1.300 Mitarbeiter), einen veränderten Begriff von „Karriere“.
Wenn andere Computerfirmen ihre Softwareabteilungen nach Indien verlagern, dann nicht nur wegen der niedrigeren Löhne, sondern vor allem wegen der kreativen Potentiale, die von der indischen Multikultur gratis geboten werden.
Jedes Spiel ist Abweichung vom Bisherigen. Es ist der Gegenbegriff zu den Wiederholungszwängen der Identität und zu der üblichen Kopistenmoral. Das Wort „Spiel“ kommt von spellam und bedeutet Abstand, Zwischenraum. In der Handwerkersprache ist diese Spur noch gegenwärtig. Die Schublade muß Spiel haben. Wenn sie so gut paßt, daß kein Abstand mehr bleibt, dann klemmt sie.
Aber wie reißen wir den Firnis der fertigen Welt auf? Karneval wäre eine Möglichkeit. Und tatsächlich liegt Karneval in der Luft. In Berlin-Neukölln zum Beispiel hat sich um die Werkstatt der Kulturen der Welt eine Initiative zusammengefunden, die einen Karneval nach Art des Straßenkarnevals im Londoner Stadtteil Notting Hill nach Berlin bringen will, den New-Kölln-Carnival. In Notting Hill entstand das größte europäische Straßenfest, das von den karibischen Einwanderern getragen wird, vor 30 Jahren im Nachhall von Straßenschlachten zwischen Einwanderern und Polizei. Lange wurde dieser Karneval jedes Jahr von der Polizei als Wiederkehr der Riots gefürchtet. Inzwischen ist er ein Höhepunkt des multikulturellen London. Am letzten Augustwochenende machen sich mehr als eine Million Menschen auf nach Notting Hill.
Vergessen wir Mainz und Köln und all die braven Pappnasen am Rosenmontag. Karneval könnte ein Labor für die Phantasie sein, ein Experimentierraum zur Wiederentdeckung des Spiels und seiner Rituale! Karneval wäre ein sozialer Tiegel, in dem die erkalteten Strukturen von Raum und Zeit umgeschmolzen werden. Karneval, und da sind wir wieder bei den Vorschlägen der Kinderbischöfe in Hamburg, Karneval ist die Eroberung der Straße. Wie soll denn Politik wieder möglich werden, wenn nicht zunächst die Straße erobert wird, wenn keine öffentlichen Räume geschaffen werden?
Da wir keine gotischen Kathedralen haben wie das Hochmittelalter, warum versuchen wir nicht Schulen zu karnevalistischen Zentren zu machen? Zugegeben, der Gedanke klingt zunächst einigermaßen abwegig. Wie soll ausgerechnet dort Karneval entstehen? Die Schule ist ein Manöver, angeblich fürs Leben, aber heimtückisch wird dort mit scharfer Munition geschossen. Aber wie die leerstehenden Kirchen sind die Schulen öffentliche Räume, mit denen man doch was anfangen könnte.
In der aufziehenden Informationsgesellschaft verliert die Schule die Währung, mit deren Monopol sie Macht ausübte: das kanonisierte, sichere Wissen. Allein mit dem Unterrichten haben Schulen keine Zukunft. Sie müssen sich Formen fürs Aufrichten ausdenken. Eine Politik des Anfangs muß nach Bündnispartnern suchen, die nicht mehr wie bisher weitermachen können.
Während die sogenannte Politik längst ein Teil der Verwaltung und des Showbiz geworden ist, muß sich die Polis regen. Es wird Zeit, daß wir unseren Blick auf andere Schauplätze richten als auf jene großen Bühnen, wo gutgekleidete tote Seelen das erfolgreiche Sterben vor dem Tod proben.
Wie etwas Neues anzufangen ist, kann man von Kindern lernen, wenn man beobachtet, wie sie über Schienen oder auf Mäuerchen balancieren: vorsichtig, Schritt für Schritt und den Blick zum Horizont gerichtet. Der visionäre Blick zum Horizont ist eine Funktion ihres Gleichgewichtssinns, des aufrechten Gangs. Wer den Horizont als zu erreichendes Ziel halluziniert, bleibt auf seinem Standpunkt stehen. Wer auf seine Füße starrt, stolpert. Reinhard Kahl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen