WANDERSCHAFTSTAGEBUCH, TEIL II : Von Geistern, der Sünde und dem Teufel
■ studierter Kameramann, ist seit 1998 Daumenkinograph: Er wandert regelmäßig über Land, zeigt seine Daumenkinos und macht Fotos für neue. Foto: Susanne Schuele
Mit einem Bauchladen, auf dem sechs meiner Daumenkinos liegen, gehe ich regelmäßig auf Wanderschaft. Ich reise zu Fuß und zeige sie den Leuten am Straßenrand und über den Gartenzaun, besuche Dorffeste und führe meine Bilder abends in Kneipen vor. Diesen Sommer laufe ich von Oldenburg über Bremen, Hamburg, Lübeck und Wismar nach Rostock.
Ich lief entlang einer großen, sechsspurigen Straße. In Bremen-Osterholz fand ich einen kleinen Park zum Ausruhen. Fünf Jungs kamen angeschlendert. Sie trugen Sporttaschen, kickten einen Fußball vor sich her. Der Älteste war 15 und wollte wissen, was ich hier machte. Ich erklärte ihm, dass ich auf Wanderschaft sei und nach Hamburg liefe. „Zu Fuß?“, fragte er ungläubig. „Ist das nicht ein bisschen …“ – er überlegte kurz, dann fuhr er fort: „…krank?“
Er erzählte mir, dass er nur am Wochenende bei seinen Eltern in Bremen sei. Unter der Woche lebe er in Oldenburg in einem Heim. Weil er Scheiße gebaut habe. „Bin eingebrochen und hab’ geklaut. Aber jetzt mache ich so was nicht mehr.“ Ich fragte die Jungs, ob sie Lust hätten, sich meine Daumenkinos anzusehen. Sie bauten sich im Halbkreis auf. Der Älteste sorgte dafür, dass sein achtjähriger Bruder – beide hatten eine große Lücke zwischen den Schneidezähnen – den besten Platz bekam.
Ich blickte in ihre gespannten Gesichter der Jungs, mochte ihre Unvoreingenommenheit. In diesem Moment war ich sehr glücklich. Als sie die ersten Daumenkinos sahen, lachten sie. Beim dritten Daumenkino fragte der Kleine mit der Zahnlücke, ob die Menschen darin alle tot seien. „Nein“, rief ich und schüttelte den Kopf. Aber mit dieser Antwort gab er sich nicht zufrieden: „Sind das Geister?“
Als sich der Älteste von mir verabschiedete, sagte ich, er solle aufpassen, dass sein kleiner Bruder nicht so einen Mist macht wie er. Er passe schon auf, sagte er. „Und falls er Scheiße baut, verprügel’ ich ihn!“
Ein paar Kilometer später überholte mich ein Mann auf seinem Motorroller. Er hielt an und stieg ab. Er war vielleicht Ende sechzig, braungebrannt, trug eine schmale, getönte Brille. „Warte mal“, sagte er. Er öffnete einen großen Sack, voll mit Essen. Das habe er im Müllcontainer eines Supermarktes gefunden. „Du kannst dir nicht vorstellen, was die alles wegschmeißen!“ Er schenkte mir vier Tafeln Schokolade, eine eingeschweißte Lasagne, Radieschen, zwei Paprika, drei Brötchen.
Dann sah er mich streng über den Rand seiner Brille an. „Kennst du Pornographie?“, fragte er mich. Ich sah ihm fest in die Augen und nickte. „Lass das!“, rief er und deutete an, sich einen runterzuholen. „Das ist Sünde!“ Daraufhin wischte er mit der Hand durch die Luft, als wolle er seine Geste ungeschehen machen. „Wer sich nicht zu Gott bekennt, der ist mit dem Teufel im Pakt! Bekenne Dich zu Gott!“
Als er zu einem meiner Daumenkinos griff, in dem eine Frau ihre Brust entblößt, warnte ich ihn. Er zögerte. Dann sagte er: „Die Frau zeigt ihre Brust bestimmt, weil sie sie mag. Das ist in Ordnung.“
Zwischen Tüchten und Wümmingen fand ich eine Lichtung. Ich wollte gerade mein Zelt aufschlagen, als ich in der Abendsonne etwas glänzen sah. Groß wie ein Kürbis, an manchen Stellen schimmerte es dunkelrot, fast schwarz. An anderen Stellen war es zart rosa und durchscheinend, von Adern durchzogen. Fliegen saßen darauf. Eine Nachgeburt, durch die jemand einen Holzpflock getrieben hatte. Ich erschrak. Die Worte des Predigers klangen in meinen Ohren. Hatte hier jemand den Teufel angebetet? Hastig packte ich meine Sachen und suchte mir eine andere Stelle. In dieser Nacht wollte ich näher bei Gott sein als beim Teufel. VOLKER GERLING