: Vom zärtlichen Anhalten der Zeit
■ Erik Fosnes Hansen, Autor des Titanic-Epos „Choral am Ende der Reise“, liest heute in Wandsbek aus seinem umwerfenden neuen Roman „Momente der Geborgenheit“
Diese Skandinavier. Knüppeln die Bestseller-Listen rauf und bleiben Jahre oben: die Fredriksson, Herr Mankell, Jostein Gaarder. Mit dabei war auch lange Erik Fosnes Hansen mit seinem Titanic-Epos Choral am Ende der Reise. Damals war der Sunnyboy der norwegischen Literatur gerade mal 30 Jahre jung. Wenn Hansen sich heute nach Wandsbek begibt, trägt er ein neues Werk im Handgepäck, Momente der Geborgenheit, und die halten 590 Seiten lang an.
Nur zu bereitwillig folgen wir ins Norwegen der Gegenwart, dem weltabgewandten Aktionär Bolt auf der Spur, der seine junge Großnichte Lea auf seinem schlossähnlichen Anwesen nicht nur duldet, sondern ihr den Blick für die Geheimnisse der Bienenzucht wie der Geschäftswelt öffnet; bewältigen einen abrupten Zeitsprung auf eine schwedische Insel am Ende des vergangenen Jahrhunderts, wo Josefa, die Tochter eines Leuchtturmmeisters, am Meer steht, ihre Herkunft wie ihr Wesen von einem dunklen Geheimnis verschattet; um alsbald noch tiefer abzutauchen in die spätmittelalterliche Welt Italiens, geprägt von der einsetzenden Aufklärung. Uns zur Seite: Lorenzo del Vetro und Fiorello, hoher Herr und niedriger Diener.
Drei Romane also in einem – mindestens. Denn auch jene Erzählstücke sind ihrerseits gegliedert in Vor- und Rückgriffe, in ineinandergeflochtene Lebensläufe und gegenwartsbezogene Handlungsebenen. Hansen legt so Hauptstränge aus, bietet Nebenschauplätze an, um sein Thema mit leichter Hand facettenreich zu spiegeln: Warum geschieht etwas, warum geschieht etwas nicht? Wie kommt es, dass ein Leben zugleich scheitert wie gelingt?
Es sind immer wieder die kurzen Szenen, in denen mit einer schier umwerfenden Zartheit die Zeit angehalten wird und in denen sich Hansens ganzes Können erweist. Schlüsselerlebnisse, die zurückführen auch auf die materielle Form der Geborgenheit, die Berührungen von Körpern: des fremden bei gleichzeitiger Bewußtwerdung des eigenen. So wenn Fiorello seinem von einer Hautkrankheit geplagten Herrn umsichtig den Rücken pflegt und dabei von der Heilkraft eines schlecht gemalten Marienbildes überzeugt wird; wenn Josefa zum ersten Mal in ihrem Leben einen ertrunkenen, angeschwemmten Matrosen wäscht, ihre Menstruation einsetzt, sie ihren ersten epileptischen Anfall erleidet; wenn sich Lea im Garten ihres Großonkels einen Bienenschwarm auf den Kopf setzt. Und sie steht da, der Ohnmacht nahe, die Gedanken wirbeln davon und kehren mit erfrischender Klarheit zurück, und siehe: Auch dem Leser fängt es in Mund, Ohren und Nase zu kribbeln an.
Eine Frage haben wir an diesem Abend noch an den Meister: Was ist damit gemeint, wenn auf Seite 587 steht: „Hier endet der erste Teil von ,Momente der Geborgenheit'“?
Frank Keil
heute, 20.45 Uhr, Buchhaus Weiland, Quarree 8 - 10, Wandsbek; Erik Fosnes Hansen: Momente der Geborgenheit. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, 591 Seiten, 1999, Kiepenheuer & Witsch, 48 Mark
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