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Vom „meutrischen“ Stamm der Puschkins

 ■ S T A N D B I L D

(Boris Godunow, Mo., 21.11., 22.45 Uhr, ZDF) Alexander Puschkin, die Russen nennen ihn noch heute liebevoll unseren Alexander Sergewitsch, nimmt in seinem Lieblingswerk die historische Figur zum Anlaß für historische und zeitbezogene Auseinandersetzungen. Der Gottesnarr, mit dem Puschkin sich selbst identifiziert, verkörpert das Volk. Boris Godunow gelangt nach dem Tod Iwans des Schrecklichen 1584 durch Mord an dessen legitimen Nachfolger Dimitri an die Macht. Doch ein „falscher Dimitri“ macht ihm den Thron streitig. Das Volk aber verweigert am Ende diesem neuen Zaren den verordneten Jubel, es schweigt. Bereits zu Beginn zeigt sich, ironisch gesprochen, wie widerwillig es den Aufforderungen, um einen Zaren zu „weinen“, nachkommt, und am Ende besiegelt es durch sein Schweigen das Schicksal des neuen Zaren. Zentrales Thema des Stückes ist der Konflikt Boris Godunows, der im Rückblick erkennen muß, daß unlautere Mittel (Ermordung des Thronfolgers) auch durch den edelsten Zweck nicht zu rechtfertigen sind. Das Stück gehört zu der Art von Kunstwerken, die immer wieder aktuell sind, das betrifft zum Beispiel die Rolle des Volkes, das Manipulierbarkeit, aber auch Widerstand zeigt.

Sergej Bondartschuk ist bekannt als etablierter Regisseur aufwendiger und detailgetreuer literarischer Verfilmungen (Tolstois Krieg und Frieden); er ist aber auch bekannt als prominenter Vertreter einer Fraktion, die dem Primat des sozialistischen Realismus huldigt und anderen künstlerischen Ausdrucksweisen feindlich gegenübersteht.

Wie interpretiert nun ein solcher Mann diesen Zündstoff? Zunächst faszinieren die großartigen Bilder an den Originalschauplätzen: der Kremlpalast im Schneegestöber, leuchtende Zwiebeltürme mit Kreuzen und davor das Volk, das nun aufgefordert wird, nach einem neuen Zaren zu rufen. Es folgen die Szenen im Inneren des Kremlpalastes, dessen düstere Pracht zunächst gefangennimmt. Bondartschuk als Boris Godunow tritt gedankenschwer und voller Schuldgefühle in Erscheinung. Es gibt nur wenige Momente, in denen Schauspieler und Figur zu einer Einheit werden. Die Erschütterung Boris Godunows zum Beispiel, als der Gottesnarr ihn verurteilt, oder sein Erschrecken, als der Name Dimitri zum ersten Mal erwähnt wird. Boris Godunow ist bereits zu Beginn ein voll entfalteter Charakter, der allerdings in all seinen Facetten gezeigt werden könnte. Der Schwerpunkt der Darstellung müßte hier in der Nuancierung liegen, aber gerade hier zeigt der Film erhebliche Schwächen. An manchen Stellen scheint die Bildgewalt den Text geradezu zu erschlagen. Besonders die Sterbeszene Boris Godunows ist von einer beträchtlichen Symbolüberfrachtung gekennzeichnet: die Kerze, die verlischt, eine Krone, die am Boden entlangrollt, die Vision vom abgetrennten, blutenden Haupt Boris Godunows und dergleichen mehr. Eine derartige Präsentation kann nur als Bevormundung bezeichnet werden. Zum einen nimmt sie dem Zuschauer jede Möglichkeit selbst zu entdecken und zu interpretieren, zum andern aber läßt sie den Eindruck entstehen, als müsse da einer zu vagen Aussage des Dichters abgeholfen werden. Trotz allem aber ist dieser Film sehenswert. Wegen der Schauplätze, der stimmungsvollen Landschafts- und Naturaufnahmen, möglicherweise auch wegen seiner Präzision, wenn auch vielleicht gerade das allzu große Bemühen um Werktreue aktuelle Interpretationen verhindert hat.

Friederike Kincel

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