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Vom Zeppelin zum Graffiti

■ 85 Jahre Kreuzberg: Wie eine 91jährige ihren Kiez erlebt

Kreuzberg. Zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück. Immer wieder dreht Metha Kressin auf ihrem winzigen Balkon am Paul-Lincke-Ufer ihre Runden. Natürlich würde die 91jährige lieber selbst am Landwehrkanal auf Achse gehen, als von hier oben die spielenden Kinder und Spaziergänger zu beobachten. Doch der Arzt meint, in ihrem Alter und nach dem Herzinfarkt dürfe sie sich nicht überanstrengen. »Ich komme mir hier manchmal vor wie ein junger Hund im Zwinger, der immer nur im Viereck rennt«, beschreibt die alte Frau ihre Gefühle.

Vor über 85 Jahren kam die damals sechsjährige Metha mit ihrer Mutter Auguste von Neuruppin nach Kreuzberg. Und seit dieser Zeit ist sie ihrem Stadtteil treu geblieben. Ob Falckensteinstraße oder Wrangelstraße, Reichenberger Straße oder Paul-Lincke-Ufer — wenn sie einmal die Wohnung wechselt, dann nur innerhalb der Kreuzberger Bezirksgrenzen.

Fast ein Jahrhundert Kreuzberger Lebenserfahrung — wer könnte geeigneter sein, aus dem SO-36-Nähkästchen zu plaudern. Schon als Kind kennt sie ihren Kiez wie die eigene Westentasche.

Ob zum Handarbeitsladen in die Oranienstraße (der übrigens heute noch existiert) oder zum Schneider in die Reichenberger Straße — jeden Tag nach der Schule wird Metha zum Laufmädchen für ihre Mutter, die als Näherin arbeitet: »War was zu bügeln, war was zu machen — Erna mußte rennen!«

Der Rufname Erna stammt noch aus der Neuruppiner Zeit. Als ihre Mutter — damals Arbeiterin auf einem Landgut — sich erdreistet, ihre uneheliche Tochter so wie die Tochter des Gutsbesitzers Metha zu nennnen, empört sich das ganze Dorf. Bis Methas Pflegemutter der rettende Einfall mit dem Zweitnamen kommt: »Is' doch nich' so schlimm. Dann heißt se eben Erna!« Und seither wird sie in ihrer Familie Erna genannt, für alle anderen ist sie aber immer noch die Metha. Sie kann mit den beiden Namen gut leben, nur die Zeit danach bereitet ihr Kopfzerbrechen: »Und jetzt überleg ick immer, wenn ick mal tot bin, was steht nun drauf, wer ist denn nun gestorben, die Metha oder die Erna?«

Das Leben der Metha Erna Kressin ist natürlich auch durch die zwei Weltkriege geprägt. Wenn sie heute durch die Straßen geht, kann sie es manchmal gar nicht fassen, was aus dem einst so zerbombten Kreuzberg geworden ist. Ihre Wohnung in der Reichenberger Straße wurde im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört. Nur die Nähmaschine konnte unversehrt aus den Trümmern gerettet werden. Der Wiederaufbau macht immer noch Eindruck: »Mensch, haben die damals was geschafft. Sieht doch wieder ganz vernünftig aus, oder?!«

Die 91jährige ist heute mit ihren materiellen Verhältnissen zufrieden. Wenn sie dennoch jede Woche ihre Bingo-Scheine ausfüllt, dann nur für ihre Familie und nicht für sich: »Wenn ich nur 10.000Mark gewinnen würde, dann würde der 2.000 bekommen und die 2.000, würd ich alles verschenken, weil ich brauch's ja nicht mehr, mir geht's ja gut.« Dreimal in der Woche kümmert sich ein junger Mann von der Caritas um die alte Frau, kauft für sie ein und putzt die Wohnung. Er war es auch, der mit ihr nach der Maueröffnung einen Ausflug nach Ostberlin machte, ihr den Wunsch erfüllte, wieder einmal nach Treptow zu kommen, wo sie als Kind so oft im Park gespielt hatte. Doch über die Veränderungen der letzten Jahrzehnte war sie so enttäuscht, daß sie »gar nicht mehr rüber möchte«. Aber auch »ihr« Stadtteil Kreuzberg hat sich nicht nur positiv verändert. Die Zerstörungen von Briefkästen und Klingelanlagen der Wohnhäuser, das Besprühen von Fahrstühlen und Häuserwänden kann sie nicht nachvollziehen: »Früher ham de Gören mit Kreide auf de Wände gemalt, heute wird alles nur beschmiert und zerstört.« Auch daß Kreuzberg mittlerweile in einem Atemzug mit Krawall und Randale genannt wird, macht die alte Frau traurig. Da ist sie dann doch froh, daß sie »hier am Wasser« wohnt, wo »die Chaoten hoffentlich nicht hinkommen und die Scheiben einschmeißen.«

Doch trotz aller negativen Veränderungen hat die alte Kreuzberger Dame nie daran gedacht, ihren Stadtteil einmal zu verlassen. Wenn sie von ihren prägenden Kreuzberger Erlebnissen berichtet, fangen ihre Augen an zu leuchten: »Ja, früher haben wir auf dem Damm noch Völkerball gespielt. 1910 sind wir alle auf den Dächern gestanden und haben den Zeppelin über den Kottbusser Damm fliegen sehen. Und die Tunneleinweihung mit Blasmusik von der Görlitzer zur Wiener — das war auch ein Ereignis!«

Heute ist ihr Leben ein wenig ruhiger geworden, nur noch selten verläßt sie ihre Wohnung, um Veranstaltungen zu besuchen und sich zu vergnügen. Den Vorwurf ihrer Freundin aus dem Haus, daß sie sich »ja gerade genug rumtreiben« würde, findet sie deshalb auch völlig übertrieben: »Ach Gott, wo treib ick mir denn rum, von hier bis zur Küche. Ihr hättet mir mal kennen sollen, wo ick noch konnte. Ja, da hab ick mir rumgetrieben! Aber heute muß ick zufrieden sein. Mann, ick kriege ja schon 30 Jahre Rente. Mann, da hab ick ja schon 'n feines Leben gelebt!« Dominik Vischer

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