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Vom Wienerischen als solchem

Das Geniale. Das Gemeine. Ein neuer Essay über Wien und die Wiener.  ■ Von Hermann Schlösser

Joachim Riedl geht mit der österreichischen Hauptstadt streng ins Gericht: Unrettbar rückständig sei diese Stadt, so betont er immer wieder, hinter ihrer so glanzvollen wie verstaubten Fassade herrsche Stillstand, und das politische und kulturelle Leben sei geprägt von Ignoranz, von Intrigen und Interesselosigkeit. Und wer sich dagegen aufzulehnen wage, dem bleibe nur die Flucht ins Ausland, den Alkohol oder der Selbstmord. Oder, in Riedls Worten: „Die Wiener haben sich mit ihrer Stadt arrangiert: Sie kuschen und stänkern. Sie hintergehen und werden hintergangen. Vor jedem Anschein der Macht kriechen sie ehrerbietig und wünschen den Mächtigen gleichzeitig die Pest an den Hals. Der Wiener ist ein heimtückischer Untertan und ein Gelegenheitsrebell.“

Dies mag so sein oder auch nicht – aktuelle Beispiele, um seine großen Worte zu belegen, bietet Riedls Buch jedenfalls kaum. Der Autor tritt nicht als investigativer Journalist auf, der irgendwelchen Korruptionsaffären, Begünstigungen oder Veruntreuungen im heutigen Österreich auf der Spur wäre. Statt dessen handelt er in essayistisch-literarischer Manier vom Wienerischen als solchem. Damit aber stellt er sich in eine sehr wienerische Tradition: Niemand hat diese Stadt pauschaler verunglimpft als die Essayisten und Literaten, die dort lebten: Vom Bußprediger Abraham a Santa Clara bis zu Karl Kraus und Helmut Qualtinger gibt es für literarische Wien-Schmähungen zahlreiche Beispiele. Die sorgsam stilisierte, zuweilen allzu pathetische Wut des geborenen Wieners Joachim Riedl ist ein weiteres.

Riedls literarische Arbeitsweise deutet sich schon im Titel des Essays an, der das Wiener Leben in Geschichte und Gegenwart über die Leisten zweier suggestiver Adjektive schlägt: „das Geniale“, einerseits, „das Gemeine“ andererseits. Nun dürfte das eine wie das andere auch in jeder anderen Stadt zu finden sein. In Wien jedoch, so Riedl, leben Genialität und Gemeinheit schon seit dem 19.Jahrhundert in einer unauflöslichen Symbiose zusammen, wie sie sonst nirgendwo denkbar wäre.

Zum Beweis dieser These polemisiert Riedl nicht nur, sondern betreibt auch historische Forschungen. Natürlich kommt dabei die sogenannte „Wiener Moderne“ prominent zur Sprache. Die radikal ornamentfeindliche Architektur des Adolf Loos wird ebenso bedacht wie die sprachkritischen Exerzitien von Karl Kraus oder Freuds Psychoanalyse. Diese und andere Wiener Beiträge zur Kultur der Moderne sind es ja vor allem, die das Stichwort des „Genialen“ rechtfertigen.

Einen breiteren Raum als diese Leistungen der intellektuellen Moderne nehmen in Riedls Buch allerdings die bornierten Gemeinheiten derer ein, die mit der Moderne nichts anzufangen wußten. Nachdrücklich weist Riedl darauf hin, daß im scheinbar so fortschrittlichen Wien der Jahrhundertwende eine überaus reaktionäre und keineswegs schweigende Mehrheit lebte: Hitlers Rassen- und Germanenwahn ist nur der bekannteste Auswuchs dieses Altwiener Bodensatzes: „Die Juden sind der Lindwurm, der die Deutschen in Fesseln geschlagen hat. Dieser Lindwurm muß erlegt werden.“ So redete etwa der berühmt- berüchtigte Dr.Lueger, der als Wiener Bürgermeister der Stadt zwar wesentliche städtebauliche Fortschritte bescherte, zugleich aber antisemitische und fremdenfeindliche Ressentiments heftig schürte.

Diese doppelgesichtige Tradition der Stadt ist also das eigentliche Thema von Riedls Essay. Der historische Überblick, den er vermittelt, entspricht weitgehend dem Standard der neueren Forschung und läßt sich ungefähr folgendermaßen fassen: Die eher provinzielle und verschlafene Metropole der Donaumonarchie wurde in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts in einer großen Bauanstrengung zu einer mondänen Großstadt umgerüstet. Vor allem in den Ringstraßenbauten manifestierte sich die Großmannssucht des liberalen Bürgertums.

Nicht ohne satirischen Witz schildert Riedl etwa jenen berühmten Festzug, den der Maler Hans Makart 1879 zur Silbernen Hochzeit des österreichisch-ungarischen Kaiserpaares arrangierte: „Um sich vom Rest der Huldigungsschar abzuheben, stolzierten die Künstler in Kostümen aus der Zeit des flämischen Barock über den Boulevard. Sie alle aber überragte einer, hoch zu Roß, ganz in schwarzer Seide und mit kühn geschwungenem Hut: der Malerfürst Hans Makart, der umschwärmte Liebling der Gesellschaft, ein zweiter Rubens. Er war der Schöpfer der farbenprächtigsten Groteske. Seinem Stildiktat verdankte die Kavalkade ihren rauschhaften Kitsch.“

Dieser so treffend bezeichnete „rauschhafte Kitsch“ bot nun den idealen Nährboden sowohl für die Entwicklung der modernen Kunst als auch für die völkisch-rassistische Rückständigkeit. Eine These nicht nur dieses Buches besagt, daß sowohl die intellektuellen Repräsentanten des modernen Wien, die meist jüdischer Herkunft waren, als auch die völkischen Blut-und- Boden-Ideologen einen ihrer Hauptfeinde im liberalen Ringstraßen-Wien fanden. Zwar führte diese gemeinsame Feindschaft nicht zu einer Koalition zwischen den Modernen und den Reaktionären, wohl aber zeigen sich Übereinstimmungen im Antiliberalismus beider Gruppierungen. Als Grenzgänger zwischen Reaktion und Moderne beschreibt Riedl vor allem den unseligen Otto Weininger, dessen frauen- und judenfeindliches Buch „Geschlecht und Charakter“ von Intellektuellen wie Karl Kraus ebenso gelobt wurde wie von Hitler.

Riedls Thesen zur Wiener Geschichte sind ebensowenig neu wie seine Polemiken im ersten Kapitel des Buches. Allerdings berufen sie sich nicht auf literarische Vorbilder, sondern auf wissenschaftliche Vorarbeiten. Zu den interessantesten Passagen seines Buchs gehört ein bibliographischer Anhang, in dem er die wichtigsten Arbeiten zur neueren Geschichte und Kultur Wiens kommentiert. Wer es jedoch so genau nicht wissen will, der findet in Riedls polemischer Recherche eine gut lesbare Einführung in die zwiespältige und zwielichtige Erblast der Stadt Wien.

Joachim Riedl: „Das Geniale. Das Gemeine“. Versuch über Wien. Piper Verlag München/Zürich 1992, 246 Seiten, 38DM

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