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Vom Widerspruch zwischen Theorie und Praxis Der Ansatz ist begrüßenswert

In den siebziger Jahren sind die ersten Tagesförderstätten in Hamburg auf den Druck von Eltern gegründet worden, die ihre erwachsenen schwerbehinderten Kinder bis dahin zu Hause versorgt hatten. Die Eltern - fast immer die Mütter - sollten wenigstens stundenweise entlastet werden.

Damals hatten die Behinderten in der Regel keine Schule besucht oder eine andere gezielte Förderung erfahren. Heute werden meist schwerer und mehrfachbehinderte Menschen aufgenommen, die jahrelang eine Sonderschule besucht haben. Die Tagesförderstätten sind für Menschen eingerichtet worden, die nicht die Aufnahmekriterien einer Werkstatt für Behinderte erfüllen, also aufgrund ihrer Behinderung keine verwertbare Arbeit leisten können oder bestimmten sozialen/pflegerischen Anforderungen nicht entsprechen. Die Gruppen bestehen meist aus acht Behinderten, davon höchstens vier RollstuhlfahrerInnen. Für die Betreuung sind in der Regel zwei ErzieherInnen, einE MitarbeiterIn ohne pädagogische Ausbildung sowie möglichst ein Zivildienstleistender vorgesehen.

Verschiedene Sozialhilfe-Verbände sind Träger von Tagesförderstätten, die Kosten, auch für die Beförderung, werden vom Landesamt für Rehabilitation im Rahmen der Eingliederungshilfe übernommen. Ziel einer Tagesförderstätte ist es, eine größtmögliche Selbstbestimmung des schwerst-mehrfachbehinderten Menschen zu erreichen. Ein Übergang der Gruppenmitglieder in die Werkstätten für Behinderte ist in den Einrichtungen gerne gesehen, aber nicht oberstes Ziel in der Arbeit.

In Hamburg soll jedeR, unabhängig von der Schwere der Behinderung, ob in der Familie oder im Heim lebend, einen Platz in einer tagesbetreuenden Einrichtung bekommen. In anderen Bundesländern erhalten schwerst-mehrfachbehinderte Menschen keine regelmäßige pädagogische Förderung außerhalb ihres Wohnbereiches. Dort wird betroffenen Eltern angeraten, ihr Kind in ein Vollheim mit pflegender Aufbewahrung zu geben, da eine regelmäßige Tagesbetreuung nicht gewährleistet wird.

Der Hamburger Ansatz, jedem Menschen unabhängig von seiner Behinderung und seiner Erwerbsfähigkeit einen Tagesplatz räumlich getrennt von seinem Wohnort zu bieten, ist ein sehr fortschrittlicher und begrüßenswerter. Die Versorgung mit ausreichenden Plätzen ist jedoch aufgrund von Planungsfehlern und ungenügender Finanzmittel ein ungelöstes Problem, die Betroffenen sitzen weiterhin wartend zu Hause.

Mathias Westecker

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