: Vom Supermarche zum Hypermarche
■ Eurovision plant ab 1990 Nachrichten rund um die Uhr
Am 22. November 1988, um 4.30 Uhr Ortszeit, wird der Polizist William Montieth in Castlederg, Tyrone, auf offener Straße erschossen. Montieth war Vollzeitreservist der britischen Ulsterpolizeitruppen in Nordirland, 55 Jahre alt und hinterließ Frau und Kinder.
Bereits in den ersten Nachrichtensendungen des britischen Fernsehens flackerten die Bilder dieser nächtlichen Schießerei über die irischen Bildschirme, gefilmt und gesendet von der BBC-Belfast. Die 13-Uhr-Nachrichten der ARD zeigten rechtzeitig nach dem Mittagessen die Ermordung Montieths. Hätte man sich zu dieser Zeit in Rom, Paris, Madrid, Nikosia oder Helsinki befunden, wäre man wahrscheinlich in der Lage gewesen, dort die gleichen Bilder zu sehen.
Zur selben Zeit trafen sich in Genf die Nachrichtenkoordinatoren der Fernsehanstalten von Norwegen bis Ägypten und Libyen und von Großbritannien bis China: eingeladen hatte die Eurovision, um das für 1990 geplante neue Nachrichtenaustauschsystem den Redakteuren der aktiv beteiligten Fernsehanstalten in Europa, Nordafrika und im Mittleren Osten sowie den passiven Mitgliedern aus aller Welt vorzustellen. Die Eurovision, mit ihrem Hauptsitz in Genf und ihrer technischen Zentrale in Brüssel, ist hierzulande am ehesten durch Quizsendungen wie Einer wird gewinnen oder den Schlagerwettbewerb Grand Prix d'Eurovision bekannt. Auch an die Live-übertragung der ersten Mondlandung 1969 dürften sich noch einige erinnern.
Den größten Teil des Tagesablaufes der Genfer Zentrale bestimmt jedoch die Koordination und Verteilung von Nachrichtenfilmen in und aus aller Wet. Seit 1961 tauschen die Mitgliedsanstalten über ein komplexes terrestrisches TV -Netzwerk, kombiniert mit Satellitenübertragungen, ihre Nachrichtenfilme untereinander aus. Über eine Konferenzschaltung teilen sich die Nachrichtenredakteure der angeschlossenen Fernsehanstalten täglich ihre Angebote und Wünsche mit, die in Genf zu einem Nachrichtenpaket zusammengefaßt werden und vom technischen Zentrum in Brüssel in alle Welt übertragen werden. Zu Beginn der sechziger Jahre genügte täglich ein 20minütiger Zusammenschluß der Fernsehanstalten, um die Nachrichtenmagazine und Wochenschauen zu füllen und die Informationsbedürfnisse zu befriedigen.
Wäre Montieth zu dieser Zeit erschossen worden, wären die Bilder in Deutschland wahrscheinlich erst zur Tagesschau um 20.15 Uhr, in Madrid, Nikosia oder Oslo vielleicht überhaupt nicht zu sehen gewesen.
Mit der Entwicklung des Mediums Fernsehen in den letzten 30 Jahren scheint auch das Informationsbedürfnis ständig gewachsen zu sein. 1968 tauschten die Fernsehanstalten bereits zweimal täglich ihre Nachrichtenfilme aus, 1974 wurden drei Nachrichtenpakete übertragen und heute werden täglich in der Genfer Zentrale zu festgesetzten Zeiten fünf Pakete koordiniert. Doch das Informationsbedürfnis einiger Mitgliedsanstalten ist auch damit noch nicht befriedigt. Der „inner circle“, das heißt die größten europäischen Sender wie BBC London, ARD und ZDF, die französischen Sender, RTVE Madrid, RAI in Rom oder DR Kopenhagen verlangen nun die totale Information. Statt den fünf 20minütigen Nachrichtenpaketen wird die Eurovision dem „inner circle“ ab 1990 die Möglichkeit bieten, rund um die Uhr, 24 Stunden täglich Nachrichtenfilme anbieten und abrufen zu können.
Damit wird es möglich, die Bilder einer schon fast zur Alltäglichkeit gewordenen Ermordung fast ohne Zeitverzögerung in andere Länder zu übertragen. Die nächtliche Schießerei in Castlederg wäre bereits zum Frühstück empfangbar.
Auf dem Markt der visuellen Nachrichten herrscht das Gebot der größtmöglichen Aktualität. Die Anbieterstruktur ist auf den ersten Blick ähnlich wie im Bereich der Presseagenturen. Statt den „big four“ (ap, upi, Reuters und afp) produzieren und verteilen die drei kommerziellen Nachrichtenagenturen Visnews, WTN und CBS-News weltweit den größten Teil des Nachrichtenfilmmaterials. Mit der Gründung der Eurovision im Jahre 1954 entwickelten die europäischen Fernsehanstalten jedoch eine unabhängige Form der Kooperation, die im Pressewesen noch heute seinesgleichen sucht.
Der vermehrte Konkurrenzdruck und die fortschreitende Kommerzialisierung im Bereich der Fernsehprogrammanbieter hat jedoch die Marktposition der Eurovision etwas erschüttert. Mit einer Investition von voraussichtlich 50 Millionen Goldfranken (entspricht etwa der DM) will die Eurovision den bisherigen Nachrichten-Supermarche in einen Hypermarche umwandeln, in dem sich die Fernsehanstalten des „inner circle“ rund um die Uhr mit den aktuellsten Informationen selbst bedienen können.
Die Vertreter der kleineren Fernsehanstalten zeigten sich in Genf nicht gerade begeistert von dieser Neuerung. Viele Nachrichtenredaktionen sahen weder die Notwendigkeit der Totalinformation noch die Möglichkeit der angemessenen Verwertung des Angebots in ihren Sendern. Kritische Stimmen warnten vor einem Überangebot und einer zu erwartenden Reizüberflutung. Als eine der Hauptbefürworterinnen zeigte sich die BBC, die nicht nur ihre mittlerweile mehr als zehn Nachrichtensendungen füllen muß, sondern auch eine starke Konkurrenz im Nacken sitzen hat. Hatte schon der 24stündige Nachrichtenkanal CNN aus den USA das Selbstverständnis und die Marktstärke der alten öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten im Nachrichtenbereich erschüttert, so fühlt sich gerade die BBC durch die Ankündigungen von Murdoch und Maxwell, in Großbritannien neue Nachrichtenkanäle zu etablieren, stark bedroht. Und dies alles noch in Zeiten, in denen die Regierung Thatcher durch Entzug von Übertragungsrechten und eventuellen Kürzungen der Rundfunkgebühren der BBC das Leben schon schwer genug macht.
Auch ARD und ZDF beginnen jetzt den Konkurrenzdruck der privaten Anbieter zu spüren. Daß die Privaten in Deutschland zur Zeit konkurrenzlos ihr Frühstücksfernsehen mit Nachrichten anbieten, soll auch nicht mehr lange hingenommen werden. Im 24-Stunden-System der Eurovision sehen ARD und ZDF längerfristig die Möglichkeit, die aktuellsten Nachrichten praktisch ohne Zeitverzögerung und in bester Bildqualität zu senden. Da sich die höchsten Werbeeinnahmen rund um die Nachrichten verzeichnen lassen, hofft man damit, auch weiterhin die begehrten und notwendigen Einnahmen zu bekommen.
Einigkeit über die Auswirkungen des neuen Systems herrschte bei den in Genf versammelten Redakteuren nur in einem Punkt: die jetzt schon harten Arbeitsbedingungen in den Nachrichtenredaktionen der Fernsehanstalten werden sich damit noch verschlechtern. Statt den bereits gängigen Zwölf -Stunden-Schichten erwarten die Journalisten ab 1990 Arbeitszeiten von 14 Stunden vor ständig flimmernden Bildschirmen. Den Ausgleich zu dem bevorstehenden Streß suchten die geplagten Journalisten in den besten Betten und Hotelbars entlang des Lac Leman und in der Genfer Altstadt. Vom „Intercontinental“ über „Amat Carlton“ bis zum „Rotary“ wurde alles in Anspruch genommen. Nur ins „Beau Rivage“ wagte sich in diesem Jahr noch keiner. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt sehnten sich alle nach einem angenehmen Bad.
Marina Schmidt
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