Vom Reichtum der armen Leute

Jörg Jung bewohnt mit Freundin und Tochter eine baufällige Doppelhaushälfte am Rande des Sauerlands. Das Paar ist arbeitslos und hat fast 150.000 Euro Schulden. Der Arbeitsagentur sind die beiden jedoch zu vermögend – das Haus muss weg

„Vom Arbeitsamt kriegen wir keine Arbeit mehr, weil wir so reich sind“

AUS ISERLOHNMIRIAM BUNJES

Ein Stück Pappe soll die Privatsphäre sichern. Der Nachbar ruft bei jedem zweiten Lachen die Polizei, erzählt Jörg Jung und verzieht das Gesicht. Die Wand zwischen den Nachbarhäusern ist gerade einmal fingerdick. Wer hier spricht, wird auch nebenan deutlich gehört. Eigentlich muss eine Steinwand ins Wohnzimmer. Und Stützbalken in die Nebenzimmer. Die alten haben Holzwürmer zerfressen, zwei Zimmer der Doppelhaushälfte sind unbewohnbar. Einsturzgefahr. Außerdem: Kaputte Wasserrohre und Schimmel im Badezimmer.

„In einem Monat sollen wir das alles verkauft haben“, sagt Jörg Jung. „Anderthalb“, korrigiert ihn seine Freundin Sabine. Die zierliche blonde Frau kann gleichzeitig seufzen und lachen. „Und dann“, sagt Jörg Jung. „Dann können wir endlich von unserem Vermögen leben.“

Zur Zeit lebt die „Bedarfsgemeinschaft Jung/Greune“ von geliehenem Arbeitslosengeld II. 1.371 Euro für Jörg Jung, Sabine Greune und ihre vierjährige Tochter Nina. Davor bekamen sie zwei Monate gar kein Geld – obwohl beide arbeitslos sind. „Das sind eigentlich immer noch 200 Euro zu wenig“, sagt Jörg Jung. „Da hat sich dann mal wieder jemand verrechnet.“

Der 39-jährige gelernte Journalist verschränkt die Arme, zieht den Mund zu einem dünnen Strich. Die 200 Euro im Monat tun seiner Familie weh. „Sind wir arm?“ hat seine Tochter schon ein paar Mal gefragt, wenn sie kein Eis gekriegt hat und wenn alle außer ihr im Kindergarten in die Ferien fuhren oder ins Kino gingen. Nein, nein, es gibt Menschen, die haben nicht einmal genug zu Essen, hat er ihr dann gesagt. „Das stimmt ja auch, aber wie es mit uns dreien weitergehen soll, wissen wir langsam nicht mehr, sehr viel weiter können wir unsere Konten nicht mehr überziehen.“

Wenn das Haus verkauft ist, muss die Familie das Geld sofort zurückzahlen. Die Unterstützung ist nur ein Darlehen, denn für die Arbeitsgemeinschaft für die Grundsicherung Arbeitssuchender (ARGE) Iserlohn gelten Jörg Jung und Sabine Greune trotz 150.000 Euro Schulden als vermögend. Schließlich besitzen sie ein Haus, das ihre Sachbearbeiterin als unangemessen groß eingestuft hat. Das muss zunächst verkauft, der Erlös für den Lebensunterhalt aufgebraucht werden. Wenn die beiden dann immer noch arbeitslos sind, können sie sich erneut um staatliche Unterstützung bewerben.

Jörg Jung stützt die Ellenbogen auf den runden Holztisch und blättert durch die ARGE-Korrespondenz. Insgesamt elf Fehler hat er in seinem Bescheid zum Arbeitslosengeld II gefunden. Die Folgenschwersten: Haus und Grundstück gehören nur zur Hälfte Jörg Jung und Sabine Greune. Die andere Hälfte gehört Jörg Jungs Mutter, die dort auch wohnt. Die ARGE hat der Familie jedoch das gesamte Haus angerechnet. Entsprechend überschreiten sie die gesetzlich als angemessen festgeschriebene Grenze von 130 Quadratmetern und als entsprechend wertvoll wird ihr Immobilienbesitz eingestuft.

Arbeitslosenbescheide mit komplizierteren Sachverhalten seien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fehlerhaft, sagt Harald Thomé von der Wuppertaler Arbeitsloseninitiative Tacheles: „Die Hartz IV-Software kann nicht mit Normabweichungen umgehen. Die Sachbearbeiter müssen das dann von Hand ausrechnen und sind damit völlig überfordert.“ Im ersten Quartal waren in 90 Prozent aller Arbeitslosenbescheide in Nordrhein-Westfalen mindestens ein Fehler, so eine Studie der Arbeitsloseniniative. Zur Zeit liege die Fehlerquote bei 60 Prozent.

In den ARGEn stapeln sich die Widersprüche, an mehreren nordrhein-westfälischen Sozialgerichten mussten zusätzliche Kammern eingerichtet werden. „Es gibt trotzdem tausende, die zu Unrecht kein oder zu wenig Geld kriegen, es lässt sich ja nicht jeder bei einer Arbeitsloseninitiative beraten“, sagt Thomé. „Und die Formulare sind so kompliziert, dass man dafür eigentlich BWL studieren muss.“

Jörg Jung kann die wichtigen Zahlen inzwischen auswendig. „Wir bewohnen 110 Quadratmeter und zahlen dafür umgerechnet 556 Euro Kaltmiete, das ist angemessen“, ohne zwischendurch Luft zu holen murmelt er auch noch den Paragraphen hinterher: Paragraph 12 Absatz 2 Nummer 4, Sozialgesetzbuch. Seit einem halben Jahr ist er Hartz-IV-Experte. Davor glaubte er, dass man derart grobe Fehler mal eben am Telefon klären könnte. „Mehrmals täglich haben wir bei der ARGE angerufen, immer war unsere Sachbearbeiterin im Urlaub, auf Fortbildung, in einer Besprechung“, sagt Jung: „Wer ohne Termin da vorbeigeht, wird wieder weggeschickt. Man müsse doch schließlich vorher einen telefonischen Termin ausmachen. Unfassbar.“ Er schreibt Briefe, erklärt mehrmals die Eigentumsverhältnisse, beschreibt den Zustand der Doppelhaushälfte. „Dieses Haus kann man nicht verkaufen, da zahlt man nochmal mindestens 40.000 Euro drauf, bis das Gröbste renoviert ist, das ist doch total abschreckend.“

Die beiden wollen trotzdem in ihrem Haus bleiben, sich durch die Instanzen klagen. Erstmal, weil es „auch rein marktwirtschaftlich totaler Quatsch ist, ein Haus zu verkaufen, um dann die gleiche Summe monatlich als Miete zu bezahlen.“ Und auch weil sie ihr Haus mögen, trotz der Holzwürmer und des Schimmels. „Ist doch schön, die ganze Familie unter einem Dach“, sagt der 39-Jährige und blickt nachdenklich auf die Palmen in seinem Wohnzimmer.

Sie sind die Überreste seines Lebenstraums – sie und die nordafrikanischen Vogelkäfige waren Deko in der Kneipe, die Jörg Jung vor zwei Jahren drei Häuser weiter aufgemacht hat. Nachdem seine Redakteursstelle bei einer Fernsehzeitschrift eingespart wurde, wollte er mal etwas anderes ausprobieren. Ein Kulturcafé mit Lesungen und Livemusik mitten im gutbürgerlichen Iserlohn-Grüne.

Wo sich frisch gestrichene Einfamilienhausfassaden aneinanderreihen, sollte ein Stück Subkultur entstehen: „Vielleicht war das naiv und von vornherein zum Scheitern verurteilt“. Jung streicht sich durch die verwuschelten Haare. „Wie spießig Grüne wirklich ist, wussten wir spätestens nach dem ersten Konzert.“ Sobald die Kneipe des gebürtigen Wattenscheiders gut besucht ist, beschweren sich die Anwohner, bei jedem Konzert kommt die Polizei. Mit dem Ergebnis, dass schnell Bands und Gäste ausbleiben. „Konzept gescheitert“, sagt Jung und zuckt mit den Schultern, nach nur zehn Monaten ist dieser Lebenstraum geplatzt. Zu den 100.000 Euro Schulden für das Haus kommen 2.000 von der Kneipe.

Fast zeitgleich verliert Sabine Greune ihren Job als Bürokauffrau bei einem Automobilzulieferer. Ebenfalls betriebsbedingt. „Das sind vielleicht Zeiten“, sagt sie. Vor zwei Monaten hätte sie fast eine neue Arbeitsstelle gefunden: Ein Versicherungsmakler war sehr angetan von Zeugnissen und Auftreten der 38-Jährigen – und von der Aussicht eine Langzeitarbeitslose einzustellen, für die die Agentur für Arbeit Förderung bezahlt. Wegen ihres Vermögens wird für Sabine Greune jedoch keine Förderung gezahlt, erfährt sie bei der ARGE. Der einstellungswillige Versicherungsunternehmer hat sich nie wieder gemeldet.

„Vom Arbeitsamt kriegen wir keine Arbeitsangebote mehr“, sagt die kleine Frau und schiebt energisch die Ärmel ihres Pullovers hoch. „Weil wir so reich sind, dass wir keine Arbeit brauchen“, ergänzt ihr Freund. Er habe aber sowieso noch nie ein Angebot bekommen. Als Journalist sei er unvermittelbar, habe man ihm in Beratungsgesprächen schon mehrmals mitgeteilt.

In anderthalb Monaten endet das Darlehen der ARGE. Und die Frist, in der die Bedarfsgemeinschaft Jung/Greune ihr unangemessenes Haus verkauft haben muss. Danach fliegen sie auch aus der gesetzlichen Krankenversicherung und müssen sich als vermögende Selbstversorger versichern – und zwar privat.

„Hartz IV ist eben kein vermögenssicherndes Gesetz“, sagt Ulrich Odebralski, Geschäftsführer der ARGE für den Märkischen Kreis. Über Einzelfälle gibt er keine Auskünfte, er kann sich aber nur schwer vorstellen, dass hier ein Fehler passiert ist. „Es fühlen sich dauernd irgendwelche Leute ungerecht behandelt. Die haben dann die Möglichkeit uns einen Widerspruch zu schreiben.“