piwik no script img

■ Vom Nachttisch geräumtErzählen

Octave Mirbeau (1850–1917) dürfte den meisten nur bekannt sein als Autor des „Tagebuchs einer Kammerzofe“. Wer Sinn fürs Morbide und das Spiel mit ihm hat, wird bei Mirbeaus „Balzacs Tod“ auf seine Kosten kommen. Vielleicht geht es den Lesern wie den Zeitgenossen, die die kleine Erzählung als Tatsachenbericht lasen, die satirischen Elemente, das kunstvolle Umkippen ins Phantastische also übersahen. Die brachten sich aus Sensationslust freilich um den entscheidenden Genuß. Erst wenn man die Übertreibungen wahrgenommen hat, die Geschichte als Fiktion erkannt hat, entwickelt man den Sinn für den Mirbeauschen Realismus, für das ironische Element in der detailbesessenen Beschreibung. Wer vom Schluß her liest, der hat mehr Freude an der Mirbeauschen Kunst der Herstellung von Authentizität. „Balzacs Tod“ kann man lesen als eine Parodie auf naturalistische Tricks. Mirbeau führt vor, wie sich der Eindruck von Realität herstellen läßt aus lauter Unwahrscheinlichkeiten. Hauptsache, der Ton wird getroffen, und ein paar signifikante Details werden bereitgestellt. Er benützt noch ein Element: die Langeweile. Der Beschreibung von Balzacs letzten Stunden ist eine kluge, aber etwas akademische Analyse von Balzacs Lebenswerk vorangestellt. Sie signalisiert, daß man es nicht mit Fiktion, sondern mit einem Essay zu tun hat. Den meisten von Mirbeaus Zeitgenossen war es offensichtlich nicht möglich, diese Maskerade zu durchschauen und die kleine Erzählung als solche zu erkennen.

Octave Mirbeau: „Balzacs Tod“. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ulla Momm, übersetzt von Gerda Genzberger. Manholt Verlag, 101 Seiten, 25 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen