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Vom Nachttisch geräumt: USA

John Wiener ist Professor für Geschichte an der University of California, Irvine. Vor allem aber ist er einer der klügsten Kommentatoren der „Nation“. Seine Artikel aus den achtziger Jahren liegen jetzt gesammelt vor. Ein Blick auf die USA der Reagan-Zeit. Wiener handelt von Professoren, Politik und Pop. Wer sich zum Beispiel über die de Man- Affäre informieren will, kann das in einer Stunde tun. Er liest Wieners drei Artikel zum Thema und hat verstanden, was de Man angestellt hat und seine Verteidiger — Derrida eingeschlossen — für Kapriolen schlagen, um ihn reinzuwaschen. Wiener läßt sich ein auf die hermeneutischen und antihermeneutischen Capricen, ohne auf sie hereinzufallen. Er bewahrt sich seinen kühlen Kopf. Wenn Derrida beispielsweise schreibt, de Man habe bei seiner Kollaboration mit den Nazis „akzeptiert, was wir heute als inakzeptabel erkannt“ hätten, dann erinnert Wiener daran, daß schon damals für die meisten belgischen Intellektuellen die Nazis inakzeptabel waren. Es ist nicht die Zeit, die de Man die Augen verschloß, ein ja sonst von Derrida nicht gerade gepflegter historistischer Standpunkt, sondern de Mans Überzeugung, sein Wille zur Anpassung an die Nazis. Wiener macht klar, wohin blinde Verehrung führt. Wer von uns weiß, daß Talcott Parsons, der Abgott der westlichen Soziolgie der fünfziger und sechziger Jahre, nach dem Krieg dafür sorgte, daß ehemalige Nazis in die USA kommen konnten und dort an den besten Universitäten und Instituten unterkamen? In „Bringing Nazi Sympathisers to US: Talcott Parson's Role“ skizziert Wiener, was Parsons für russische Kollaborateure, die sich während des Zweiten Weltkriegs auf die Seite der Nazis gestellt hatten, tat. Aktionen der Jahre des frühen kalten Krieges, als jeder, der Auskunft geben konnte und wollte über die Sowjetunion, von den USA mit offenen Armen aufgenommen wurde.

In einer Reihe von Artikeln setzt sich Wiener mit der Rolle der Popmusik in der amerikanischen Politik auseinander. John Lennon wurde von der FBI observiert. Es gibt schränkeweise Aufzeichnungen seiner Beobachter. So originell, wie man uns heute glauben machen will, war die Stasi nicht. Sie ist nur die Organisation, zu deren Akten wir weitgehend Zugang haben. „Ist rock'n'roll revolutionär? Die Frage klingt idiotisch, wenn Ronald Reagan James Watt über die wirkliche Bedeutung der Beach Boys belehrt.“ So beginnt Wiener seinen Artikel über die Akte FBI gegen John Lennon. Wer sich erinnert, weiß, daß Rock und Revolte ein paar Jahre lang eins waren. Er erinnert sich auch, wie die beiden sich langsam trennten. Wiener zeigt die Etappen. Ein Lehrstück, geschrieben gegen die terribles simplificateurs beider Seiten. Warum bringt niemand in Deutschland Wieners Artikel, wenigstens eine Auswahl davon, heraus?

John Wiener: Professors, Politics and Pop. Verso, 366Seiten, 19,95Pfund.

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