: Vom Boxring zum Mysterienspiel
■ „Dr. Faustus“ nach Marlowe in Oldenburg, gespielt vom Stanislaw-Ignacy-Witkiewicz-teatr
Wer derzeit polnisches Theater erleben will, muß nicht bis Polen, aber doch bis Oldenburg. Dort organisiert gerade die Kulturetage ein faszinierendes Theater-Angebot in einer alten Eisenbahnhalle. Da bezahlst du bei einem durchnäßten und doch noch freundlichen Kartenverkäufer am Ende eines verpfützten Parkplatzes den Eintritt für das Spektakel Doktor Faustus nach Marlowe, in der Bearbeitung des Regisseurs und Prinzipals der Truppe, Andrzej Dziuk. Am Ende des Weges identifiziere ich Nebelschwaden als Theaternebel.
Dann wirst du mit ausgesuchter Höflichkeit hereingebeten in die Vorräume des Geschehens. Da taucht ein schwarz gewandeter, blutig beschmierter Mensch auf und schiebt seine Karre zwischen die Gleise ins (zahlreiche) Publikum. Mit gutturaler Stimme stammelt er in Kauderwelsch von seinen Schwierigkeiten, diese furchtbare Tragödie nun in Landesprache zu vermitteln... worüber einige lachen — versuchsweise. Sind wir nicht alle hergekommen aufgrund der zwielichtigen Ankündigung, hier das wahre Antlitz des Teufels vorgeführt zu bekommen nebst der schönen Helena von Troja — und nicht weniger als sieben Todsünden in persona, die „das Blut in den Adern erstarren lassen“... Der Schubkarrenschieber schreckt nicht davor zurück, in seine Karre zu pissen. Er verheißt Magie und zündet das Ganze an — wir lassen uns lachend hereinbitten ins Allerheiligste hinter einem weiteren schwarzen Vorhang. Und setzen uns rings um ein viereckiges schwarzes Podium, das an einen Boxring erinnert. Weit oben, in beiden Richtungen des schier unbegrenzten Eisenbahnhallenhimmels je ein Engel: erschreckend schön in verfremdeter Archaik. Faustus (Krzysztof Lakomik) zieht auf dem schwarzen Viereck einen weißen Kreidestrich um sich — aber Satan (Krzysztof Najbor) hält das nicht ab, wiewohl er, nackt und sich in tierischer Wut am Boden wälzend, von Faustus bezwungen wird. Nach einem mißglückten Kopulationsgeschehen stakst der Stolz heran im roten Gewand, kreischt in höchsten Tönen zur gar verführerischen Musik und hat auf seinem Totenschädel den schönsten bunten Sommerhut.
Ist die eine Sünde weg (alle dargestellt von Dorota Ficon), taucht schon die nächste auf: die Geldgier als ein Buckelwesen. Die schlitzt Faustus auf, und es regnet goldene Taler. Der dunkelrote Zorn haut ihn heftig, die glänzende Eifersucht umgarnt ihn, und davor veranstaltet die Freßsucht ein Heidenspektakel behängt mit Würsten vor'm fetten Wanst. Ein veritabler Eber baumelt dazu von der Decke. Zwischendurch wird es auch still, flüchtig erstrahlen die Himmelsengel, um gleich wieder zu verschwinden. Bei aller Lust am Makabren, aller kreatürlichen Kreativität, ist aus dem Boxring kurz vor Mitternacht ein Ort des Mysterienspiels geworden. Faustus wünscht sich nochmals Liebe in seiner Todeseinsamkeit. Wieder wird sie ihm hingerollt — und entpuppt sich jetzt als Schönheit in Person, diesmal ohne Totenmaske. Faust wickelt sich mit Helena in ihr weißes, von seinen blutigen Händen beflecktes Tuch. Aber auch der Spuk verschwindet. Satan triumphiert, schon ist Faust von der Bühne gerollt. Und aus einem rostigen Topf als letztem Akteur quillt undurchdringlicher Nebel.
Das Publikum holt Bravo-rufend die Schauspieler viele Male zurück auf die Bühne. Wie ist das zu erklären, dies Übertragungsphänomen aus dem polnischen Bergort Zakopane in die norddeutsche Tiefebene? Für mich bleibt ein Rest: ich konsumiere das nicht mühelos. Da bleibt (für Westler) eine Menge Widersprüchliches, worüber ich mich mit der polnischen Theaterexpertin Joanna Rzepa auf der Rückfahrt — bei dichtestem Nebel! — verständige. Unsere erlernten Orientierungen geraten durcheinander: Zwischen Avantgarde und Religiosität, Esoterik und Volkstümlichkeit, leibhaftigem Komödiantentum und dem Anspruch einer geistigen Offenbarung klafft im polnischen Theater kein unüberwindlicher Abgrund. Dieses Theater jedenfalls arbeitet in seiner Anti-Alltäglichkeit mit allen Stilmitteln der Moderne — und will doch existentielle Erschütterung, wenn nicht Umkehr (durch Furcht und Mitleid) erzeugen. Wir waren einig, daß das Spannende am Kulturaustausch nicht das ist, was aufgeht, vielmehr die Herausforderung übrigbleibt. Und einig waren wir, daß solche Abenteuer mit polnischer Kultur auch Bremen zu wünschen sind! Konstanze Radziwill
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