: Volksjammer in der Volkskammer
■ Besetzer der Stasi-Zentrale kamen bei den Abgeordneten zu Besuch und brachten Tagesordnung durcheinander/ Einigungsvertrag mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit abgesegnet
Berlin (taz/afp/ap) — Unmittelbar vor der „historischen“ Abstimmung zum Einigungsvertrag platzten die Besetzer der Stasi-Zentrale in die Volkskammer und entrollten vor den verdatterten Abgeordneten ihr Transparent: „9. Tag Hungerstreik“. Nach einigem Hin und Her mit dem Präsidium war — undeutsch liberal — eine Pause ausgehandelt. Die Leute von der Normannenstraße konnten ihre Erklärung abgeben: Bürgerrechtler Reinhard Schult, ausgezehrt doch entschieden, geißelte den ausgehandelten Kompromiß zum Umgang mit den Stasi-Akten. Er verlangte ein Aushändigungs- und nicht nur Auskunftsrecht der Betroffenen. Außerdem forderte er die Volkskammer auf, diejenigen Abgeordneten, die nachweislich für die Stasi tätig waren, nicht über den Einigungsvertrag mit abstimmen zu lassen.
Mit knapper Mehrheit hatten zuvor die Parlamentarier einen Antrag der Fraktion Bündnis90/Grüne auf die Tagesordnung gesetzt, den Prüfungsausschuß zur Namensnennung derjenigen Abgeordneten aufzufordern, denen wegen des Verdachts einer Stasi-Vergangenheit der Rücktritt nahegelegt wurde.
Wie erwartet fand der nachgebesserte Einigungsvertrag in der zweiten Lesung der Noch-Volkskammer die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Zuvor allerdings hatte PDS- Chef Gregor Gysi den Einigungsvertrag in der Debatte als „schlampig und oberflächlich ausgehandelt“ angegriffen. Seine Fraktion könne diesem „einseitigen Kohlschen Weg zum Anschluß der DDR“ nicht zustimmen. Gysi machte dafür vor allem den starken Zeitdruck verantwortlich, unter den sich die Volkskammer mit ihrem Beitrittsbeschluß zum 3. Oktober selbst gesetzt habe. Als Schwachpunkte des Vertrages nannte er die fehlenden Aussagen zum militärischen Status der ehemaligen DDR, die Stasi-Aktenregelung, die dem Verfassungsschutz einen Zugriff erlaube, sowie ein fehlendes Bekenntnis zur Verantwortung für die Nazizeit.
Ablehnung auch auf seiten des Bündnisses 90/Grüne. Konrad Weiß zeigte sich „bestürzt“ über die fehlenden Aussagen zur Verantwortung ganz Deutschlands an der Judenvernichtung und zur Entschädigung für enteignetes Eigentum. Weiß beklagte zugleich im Zusammenhang mit den Nachverhandlungen zum Umgang mit den Stasi-Akten, daß das DDR-Parlament weniger Einfluß gehabt habe als die Besetzer in der Ostberliner Stasi-Zentrale mit ihren außerparlamentarischen Aktionen. Bei der abgelehnten Rehabilitierung von Stasi-Opfern habe „Krämergeist über Gerechtigkeit“ gesiegt. Weiß lehnte den Einigungsvertrag im Namen der Mehrheit seiner Fraktion ab.
SPD-Abgeordnete Edelbert Richter hatte in seinem Beitrag angedeutet, daß seine Fraktion dem Einigungsvertrag möglicherweise nicht geschlossen zustimmen werde. Innerhalb der Partei habe es sehr harte Diskussionen gegeben. Die Sozialdemokraten hielten viel davon, daß die Abgeordneten nur ihrem Gewissen verantwortlich seien. Dennoch: „Wir wollen die deutsche Einheit fördern.“
Richter ging scharf mit der Verhandlungsführung der Ostberliner Regierung bei der Arbeit am Einigungsvertrag ins Gericht. Der Parlamentsausschuß Deutsche Einheit habe der Verhandlungsdelegation eine klare Stellungnahme mit auf den Weg gegeben. Von 13 darin erwähnten Punkten sei im Einigungsvertrag aber nur ein einziger erfüllt. Es entstehe der Eindruck, daß dieser zweite Staatsvertrag wie schon der erste über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion als „Geschenk der Exekutive“ an Volk und Parlament gedacht sei.
Als erster Tagesordnungspunkt der 36. Volkskammersitzung hatte eine Erklärung von DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière zu den Moskauer Zwei-plus-vier-Gesprächen gestanden. Die vertraglichen Regelungen mit den früheren Siegermächten beweisen nach seinen Worten das gewachsene Vertrauen in Friedenswillen und Friedensfähigkeit der Deutschen. Mit dem in Moskau unterzeichneten Vertrag über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit sei der „Grundstein für ein Zeitalter des Friedens, der Freiheit und der Zusammenarbeit“ in Europa gelegt. Die Sowjetunion betrachte Deutschland nunmehr als verläßlichen Partner. Entscheidende Bedeutung maß Ministerpräsident de Maizière der endgültigen Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa und der Reduzierung des militärischen Potentials Deutschlands zu. asw
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