■ Standbild: Volksentscheid
„Jetzt sind Sie dran!“, Freitag, 22 Uhr, Sat.1
Mitte der 60er Jahre herrschten buchstäblich beschauliche Verhältnisse. Boten die Sendeplaner zur Abendbrotzeit ein attraktives Programm, konnten sie mit Fug davon ausgehen, daß die Zuschauer ihrem Kanal für den Rest des Abends treu bleiben würden. Die Fernbedienung war zwar bereits erfunden, aber noch wenig verbreitet. Das änderte sich im Laufe des nächsten Jahrzehnts. Ende der 80er verfügten mehr als 75 Prozent der US- Haushalte über die Distanzwaffe und setzten sie rigoros ein im Kampf gegen die televisonäre Langeweile. Channel-hopping und Zapping bürgerten sich ein. Die Programmacher reagierten: Die Frequenz der Reizeinheiten erhöhte sich, die Sendeabfolge wurde schneller, die Segmentierung schritt voran.
Inzwischen trachten clevere Produzenten danach, den ZuschauerInnen das Zappen abzunehmen. Die „Gong Show“, ein hierzulande vom NDR kurzzeitig erprobtes, später von RTL etabliertes US-Format, war ein typisches Produkt dieser Entwicklung. „Jetzt sind Sie dran“ knüpft an jene Idee an: War es in der „Gong Show“ eine Prominentenjury, so bestimmt hier das Saalpublikum über die Länge der einzelnen Beiträge. Wer seine Darbietung unbeschadet über die Runden bringt, darf mit einem Preis nach Hause gehen.
Für die Premiere wurden Talk-Gäste mit Spleens und absonderlichen Hobbies aufgeboten, grob gepeilt eine Auswahl all derjenigen, die bei „Arabella“ oder „Schreinemakers live“ bislang nicht untergekommen sind. Zusätzlich hielt die Sendung noch einen Männer-Strip und eine musikalische Einlage vor. Im Grunde läuft ab, was sonst hinter den Kulissen geschieht: Ein Publikum wird auf seine Vorlieben getestet. Freilich nicht in, wie von Moderator Koschwitz suggeriert, „demokratischer“, sondern eher denunziatorischer Absicht, wie die Bildregie zeigte: Während auf der Bühne Männer strippten und Dildos vorgeführt wurden, richteten sich die Kameras bevorzugt auf Frauen, die nicht dem landläufigen Schönheitsideal entsprechen.
Desungeachtet eröffnet sich natürlich mit dieser Sendereihe eine Fundgrube für Talkshow- Redakteure sowie Verhaltens- und KulturforscherInnen. Nicht repräsentativ, aber tendenziell gibt das Volk zu erkennen, was es vom Fernsehen begehrt: nämlich Männer-Strip, Fußball und reichlich Halb- bis Nullseidenes. Harald Keller
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