piwik no script img

■ Völkermord in Bosnien, Killerbanden in Rußland, Schlächtereien in Ruanda: Die Welt ist aus den Fugen. Doch die Politiker liefern sich Scheingefechte. Der Ökosozi Hermann Scheer analysiert die Krise der Parteien – auch die SPD kriegt ihr Fett weg.Der Staat siecht dahin – und die Barbarei kommt

Wir stehen am Kreuzweg von humanitärer Demokratie oder Barbarei. In welchem Ausmaß barbarische Exzesse schon jetzt toben, zeigt sich vor allem an der aktuellen Springflut lokaler Kriege. Von den gegenwärtig etwa einhundert geführten Kriegen sind nach einem Bericht des Club of Rome schon zwei Drittel auf die Erschöpfung natürlicher Ressourcen und den Kollaps der Sozialsysteme zurückzuführen, also auf sozial verantwortungsloses Wirtschaften.

Zehn Millionen obdach- und elternlos streunende Kinder in Brasilien; die Todesschwadronen, die dort bettelnde Kinder vor den Luxushotels abknallen oder die Gewerkschafter foltern und ermorden; die Killerbanden in der ehemaligen Sowjetunion; Kinder, die für lukrativen Organhandel ausgeschlachtet oder getötet werden – all dies erfahren wir täglich, ebenso wie die Staatsauflösungen in Clansysteme mit den Menschenschlächtereien in Ruanda, Burundi oder Angola.

Die Keimlinge der neuen Barbarei sind längst in die westlichen Festungen gesetzt, sei es durch die seuchenartig sich ausbreitende organisierte Kriminalität, sei es durch den Verfall der Großstädte, durch verwahrlosende Menschenmassen, die sich ihrer Haut zu wehren beginnen, oder durch Sekten wie jenen in Japan, die sich mit Chemiewaffen- und Atomterrorismus auf das letzte Gefecht vorbereiten.

Daß die Ozonschicht zerstört wird, weil angeblich der Verzicht auf diese Stoffe oder der Einsatz von Ersatzstoffen wirtschaftlich nicht allen zugemutet werden kann, gehört in die Kategorie legaler Barbarei. Heute bedeutet das faktisch Hausarrest für Kinder in Australien und Neuseeland, da sie wegen des Hautkrebsrisikos nicht mehr länger als ein paar Minuten unter freiem Himmel sein dürfen.

Zur legalen Barbarei gehört ebenso, wie sich die westlichen Industrie- und Finanzoligopole auf die Massenmärkte in China und Indien stürzen, wo insgesamt ein Drittel (!) der Menschheit lebt, das jetzt in die Kopie des westlichen Wachstumsmodells mit seinen Energieverbrauchsstandards einerseits drängt und andererseits gelockt wird.

Die weinerlichen Begründungen der westlichen Welt, daß sie ihre die Ökosphäre zerstörenden wirtschaftlichen Strukturen angeblich im Interesse aller nur sehr langsam ändern könne, erweisen sich als dreiste Täuschung: Tatsächlich giert der Westen mit der Massenmotorisierung in Südasien und Südostasien, mit dem Verkauf von Atom- und Kohlekraftwerken auf das größte Geschäft der Wirtschaftsgeschichte.

Die Opfer dieser Entwicklung haben immer weniger Grund, ihre Situation danach zu bewerten, ob die jeweiligen Urheber legal oder illegal operieren oder ob sie demokratisch legitimiert sind. Wenn die Legalität offensichtlich unverantwortliche Entwicklungen erlaubt, geht die Legitimationsgrundlage eines politischen Systems verloren. Wenn aber der legale Rahmen nicht mehr den legitimen Bedürfnissen allgemeinen Überlebens gerecht wird, muß er verändert werden. Wenn er nicht mehr verändert werden kann, wird er zerbrechen, selbst wenn alle daran festhalten wollten.

Die begrenzten Gesetzesverletzungen, wie sie Aktivisten von Greenpeace, Robin Wood oder den britischen Sea Shepards praktizieren, stoßen – völlig zu Recht – auf große Sympathie in weiten Teilen der Bevölkerung, weil sie sich gegen zwar legale, aber ethisch illegitim gewordene Strukturen richten. Bilden sich die Weltkonzerne, wenn sie die Saatgüter und die Patente über natürliche Ressourcen flächendeckend monopolisiert haben, tatsächlich ein, sie könnten die Regierungen der Dritten Welt auf Dauer dafür einspannen, für internationale Monopolisteninteressen gegen die eigene revoltierende Bevölkerung vorzugehen? Die Institutionen werden weggefegt und mit ihnen die internationale Rechtsordnung, falls sie nicht grundlegend geändert wird – und falls dies nicht rechtzeitig geschieht.

Erstmals seit Beginn des Industriezeitalters erleben wir, daß es trotz laufender Verschlechterungen der sozialen Lage keinen Massenprotest gibt, der die Gesellschaft aufwühlte. Statt daß die Parteien der klassischen sozialen Bewegung Zulauf erhielten, sind sie ideologisch eher in der Defensive, stagnieren oder verlieren sogar an Rückhalt. Nahezu überall versuchen auch die Parteien, allerdings mit unterschiedlichstem Erfolg, sich dem Mainstream der Gesellschaft anzuschließen.

Aber gleichzeitig kann man sich eine Perspektive für eine neue soziale Zukunftsbewegung kaum noch vorstellen. Denn dieser Mainstream ist es ja gerade, der sich – von der wirtschaftlichen Hegemonie gesteuert – offenbar unausweichlich auf den Abgrund zubewegt. Ohne eine neue zündende Idee, die vor allem der Jugend eine politische Motivation für gesellschaftliches Engagement vermittelt und die auch den Mainstream der Gesellschaft erfaßt, ist das weitere Dahinsiechen des demokratischen Staates nicht aufzuhalten.

Damit stellt sich die Frage nach dem Zustand der gegenwärtigen politischen Träger, das heißt der Leute, die die politische Willensbildung organisieren, die planen, entscheiden und umsetzen. (...)

Wer die Rolle des Spitzenkandidaten einer Partei anstrebt, bereitet dies heute nicht in der Partei vor, sondern in den Medien, weil man mit der Medienhörigkeit der Partei rechnet. Für Bewerber um die Spitzenkandidatenrolle wird es zum Erfolgsrezept, einen individuellen Popularitätsvorsprung vor der eigenen Partei gezielt anzustreben. Damit die zentrale Stellung des Spitzenkandidaten oder der von einer Partei gestellten Regierung nicht beschädigt wird, soll auch das Programm der Partei sich an dem ausrichten, was der Medienwirksamkeit dieser Repräsentanten nützt.

Die Zahl derer, die sich diesem Zwang zur stromlinienförmigen Medienwirksamkeit einer Partei nach den Gesetzen der modernen Werbepsychologie aus inhaltlichen Gründen verweigern, ist heute relativ klein geworden. Die Folge ist, daß die großen Parteien mehr Kadereigenschaften angenommen haben als zu Zeiten, in denen der Werte- und Interessenpluralismus weniger ausgeprägt war als heute. Große, die politischen Sinne schärfende strittige Debatten auf Parteitagen sind selten geworden.

Durchkreuzt wird dieser Mechanismus überwiegend nur noch dann, wenn ein personeller Konkurrent beginnt, sich in Szene zu setzen. Nicht, daß gar keine Diskussionen mehr stattfänden: Auffallend ist dabei aber, daß diese sich fast nur noch auf die spektakulären Tagesereignisse beziehen, kaum noch auf Probleme, die drohend auf uns zurollen.

Wer sich derart abhängig fühlt von den Medien, kastriert sich politisch selbst, und eine Partei nimmt sich mit einem solchen Gefühl die Möglichkeit zur geistigen Autonomie. Die Meinungsführer in den Medien werden auf diese Weise zur entscheidenden Referenz, sie sind die gesellschaftliche „Basis“. Und da sich alle auf dieselben Medien als Referenz beziehen, werden diese zum Maßstab der Politik, und die inhaltlichen Politikangebote der Parteien gleichen sich einander an.

Freiwillig konzedieren die demokratisch gewählten Repräsentanten den Medien ihre Rolle als eigentliche Repräsentanten der öffentlichen Meinung. Da diese aber in der Regel weit weniger unmittelbare Basiserfahrung mit den unterschiedlichen Bevölkerungsschichten haben können – im Zweifelsfall sitzen sie noch eher in „Elfenbeintürmen“ als die Parteiführer –, führt das zu dauernden politischen Fehleinschätzungen: Man verwechselt die Meinung der Medien mit der Meinung der Gesellschaft insgesamt, das heißt man schätzt den Stellenwert der Medien noch höher ein, als er ohnehin schon ist.

Wie intensiv diese selbstauferlegte Abhängigkeit ist, kann nur jemand ermessen, der schon einmal eine Sitzung von politischen Führungsgremien verfolgen konnte. Ein einziger negativer Zeitungskommentar zu einem politischen Vorschlag kann bewirken, daß man die Finger davon läßt, und wenn der Vorschlag noch so vernünftig ist. Umgekehrt reicht gelegentlich auch schon ein einziger positiver Kommentar, um ein politisches Gremium in Euphorie zu versetzen.

Um der jeweils marktgängigen Personen- und Produktwerbung willen erhalten die Public-Relations-Berater mehr politischen Einfluß als ganze Führungsgremien oder Parteitage. Die Mechanismen einer selbstauferlegten Medienhörigkeit stoßen demokratische Beteiligungswünsche ab. Sie entfremden gerade politisch Interessierte von der Politik, wodurch die Parteien allmählich die potentiell Aktivsten in der Bevölkerung verlieren. Je mehr sich aber die Parteien auf die nur individuellen Erfolgsrezepte der Mediengesellschaft einlassen, desto mehr sind sie Subjekt und Objekt der Zerstörung einer demokratischen Kultur: Sie treiben so Schindluder mit sich selbst und mit der Demokratie, die ohne Parteien nicht lebensfähig ist. (...)

Im Unterschied zu den liberalkonservativen Parteien, die schnell der Verführung erliegen, schwierige Fragen zu simplifizieren, versuchen die sozialdemokratischen Parteien eher, sich der gesellschaftlichen Komplexität zu stellen. Ihre Methode besteht darin, das politische Handeln am breiten Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen auszurichten. Die Konsenssuche erscheint ihnen nicht nur als der konfliktloseste, sondern auch als der adäquateste Weg, der Interessen- und Wertevielfalt gerecht zu werden.

Die Konsensorientierung ist vielleicht deshalb in den sozialdemokratischen Parteien am weitesten verbreitet, weil sie in der Bedrohung des Wohlfahrtsstaates das Gefühl haben, dessen Blütezeit demokratischer und sozialer Stabilität werde vielleicht nie mehr wiederkehren. Das Bemühen, an eingespielten Konsensbildungsmechanismen so lange wie möglich festzuhalten, ist daher psychologisch verständlich. Doch ist ein solcher Konsens von der ökonomischen Entwicklung und der ökologischen Zerstörungsdynamik heute schon längst aufgekündigt. Daß sie trotzdem daran festhalten, treibt die sozialdemokratischen Parteien zwangsläufig in die Defensive.

Der Versuch, sich die Probleme aller zu eigen zu machen, also so etwas wie die Rolle der „ideellen Gesamtgesellschaft“ zu spielen, treibt sie in eine Situation, wie sie der Kabarettist Dieter Hildebrandt einmal treffend – gemünzt auf die SPD – formuliert hat: „Wer seine Finger überall drin haben will, kann daraus keine Faust mehr machen.“

Ihr Konsensbedürfnis liefert auch die Erklärung dafür, warum sozialdemokratische Parteien mehr als andere dazu neigen, neue Mehrheiten durch die Addition von verschiedenen Forderungen gesellschaftlicher Gruppen zu erreichen und auf eine verbindende zentrale politische Botschaft zu verzichten. Daraus entsteht eine janusköpfige Partei, mit der sich zu identifizieren die Menschen Möglichkeit mehr haben.

Ihr Konsensverständnis hat die sozialdemokratischen Parteien in ihrem Handeln derart geschwächt, daß sie nicht einmal mehr imstande sind, politische Kampagnen durchzuführen, weil dies nur gegen einen Gegner möglich ist.

Konsenspolitik wird damit begründet, daß sie gerade bei schwerwiegenden Umbruchsentscheidungen nötig sei. Aber Umbruchsentscheidungen sind zugespitzte Entscheidungen. Sie können nur dann rechtzeitig getroffen werden, wenn einer Partei die eigene demokratische Legitimation ausreicht und man bereit ist, auf einen Konsens mit Repräsentanten versäulter gesellschaftlicher Teilsysteme zugunsten einer Mobilisierung in der Bevölkerung zu verzichten.

Die Problemdynamik wartet nicht auf einen Konsens. Weder das New-Deal-Programm Franklin D. Roosevelts noch die Ostpolitik Willy Brandts oder die Anerkennung Palästinas durch die israelische Rabin/Peres-Regierung – oder irgendeine andere historische Entscheidung – wäre möglich geworden durch das Warten auf einen breiten Konsens. Und eben solche Entscheidungen stehen heute an, von deren Zustandekommen die weitere Existenz der Demokratie abhängt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen