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Archiv-Artikel

Vision zwei: Eine Avantgarde für die EU

Europa kann die Weltpolitik nur gestalten, wenn die integrationswilligen Staaten sich zusammenschließen

taz: Herr Lamers, nehmen wir an, der Verfassungsvertrag scheitert. Was wird dann aus der EU?

Karl Lamers: Ein Scheitern ist leider durchaus möglich. Dann sollte die Bundesrepublik versuchen, mit all den Staaten, die an einer weiter gehenden Integration interessiert sind, eine Avantgarde oder einen Kern bilden.

Wer könnte zu diesem Kerneuropa gehören?

Auf alle Fälle die sechs Gründungsstaaten, aber auch Spanien, Finnland und Österreich. Bei Großbritannien und Polen sehe ich eher Probleme, weil sie nicht gerade Befürworter von mehr Integration sind.

In welchen Bereichen würde die Avantgarde vorangehen?

Vor allem bei der Außen- und Sicherheitspolitik. Wenn die Bedingungen unseres politischen Handelns immer mehr von außen bestimmt werden, ist es logisch, dass man sich vorrangig darum kümmert, diese Bedingungen mitzugestalten. Die Nationalstaaten allein können das nicht mehr, dafür sind sie zu schwach. Nach dem enormen Ansehensverlust der USA braucht die Welt noch dringender ein Europa, das seinen Anspruch, ein Modell für eine bessere Welt zu sein, mit größtem Einsatz vertritt.

Könnte die Bildung von Kerneuropa nicht zur Spaltung Europas führen? Dann wäre es schwächer als zuvor.

Diese Gefahr ist immer beschworen worden, oft von denen, die nicht mehr Integration wollen. Denn sie wissen genau, das genau dies das Ergebnis eines Kerns ist, der eine magnetische Wirkung hat. Wer nicht mitmacht, verliert immer mehr an Einfluss.

Wolfgang Schäuble und Sie haben schon vor über zehn Jahren das Kerneuropamodell entworfen. Hat die EU zu lange versucht, alle 25 Staaten zusammenzuhalten?

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war klar, dass die EU die osteuropäischen Staaten aufnehmen musste. Ebenso klar war aber auch, dass durch die Erweiterung die Vielfalt der Positionen in der EU zunimmt und diese so nicht unbedingt stärker wird. Unsere Idee war es, das Spannungsfeld zwischen Erweiterung und Vertiefung durch die Kernbildung zu überwinden. Das heißt: Alle, die wollen, können enger zusammenarbeiten, müssen es aber nicht.

Besteht nicht die Gefahr, dass vor allem die großen Staaten kooperieren und die kleinen draußen vor der Tür bleiben?

Ja, das hat sich zum Beispiel beim Irakkrieg gezeigt. Natürlich war das Nein von Frankreich und Deutschland zu diesem Krieg sachlich völlig richtig. Aber es war eben ein Alleingang, kleinere Staaten, aber auch andere wurden nicht gefragt. Das hat zur Spaltung Europas beigetragen.

Wenn verschiedene Staaten in unterschiedlichen Politikbereichen zusammenarbeiten, wird die EU dann nicht noch undurchschaubarer?

Tatsächlich werden die Entscheidungsprozesse in einer solchen EU nicht besonders transparent sein. Was für die Menschen jedoch zählt, ist das Ergebnis von Politik. Wenn dieses gut ist, dann macht den Bürgern mangelnde Transparenz keine Sorgen.

INTERVIEW: SABINE HERRE