Village Voice: Mods mit Milchkaffee
■ Gudrun Gut und Myra Davies trafen Laurie Anderson auf der Potsdamer Straße, Jackethive schmecken nach NDR 2
Vor noch nicht so langer Zeit schätzte man von Trier bis Toronto vor allem eines an Berlin: Der örtliche Underground mit seiner eigenen Geschichte aus reiner Gegenwart hatte genug Zeit, halbwegs intakte Strukturen zu bilden und Qualitätskriterien zu entwickeln, die über die momentane Freude am Abseitigen hinaus wiesen. Eine der inzwischen legendären Figuren dieser Szene ist Gudrun Gut. Sie spielte einen Korg MS-20 Synthesizer bei den frühen Einstürzenden Neubauten, trat bei den „Genialen Dilettanten“ zusammen mit Blixa Bargeld auf und gründete neben ihrer Arbeit an Radioproduktionen von Heiner Müllers „Hamletmaschine“ und Carl Orffs „Die Glut“ Bands wie Malaria und Matador.
Auch ihr aktuelles, zusammen mit einer gleichnamigen Butoh- Performance entstandenes Projekt Miasma beginnt mit einem M – wie Mutter, Max Müller oder Milchkaffee und hat inzwischen einen zweiten Longplayer mit dem Untertitel „clear and cold at the higher elevations“ hervorgebracht. Zusammen mit der kanadischen Kunsthistorikerin und Rechtsanwältin Myra Davies, die die arg unterkühlten Vocals beigesteuert hat, entwirft sie ein sehr eigenes Universum, das nur einen einzigen Nachteil hat: Es schmeckt durch und durch nach den achtziger Jahren.
Zwischen Anne Clark und Laurie Anderson ist der erzählende Part angesiedelt, der von der „Potsdamer Straße bei Nacht“, göttlichem Schleim und Psychiatern berichtet und sich didaktisch bis allwissend über die fragilen Kompositionen aus dem avancierten Elektronik-Baukasten legt. Tragisch, daß diesen offen gehaltenen Collagen erst gegen Ende ein angemessener Spielraum eröffnet wird – ein wenig weniger wäre wie so oft so viel mehr gewesen und würde dem Hörer keine abrupte Entscheidung abverlangen.
Daß darüber hinaus nur beiläufig auf Wilhelm Reich und die Tradition der europäischen Literatur verwiesen wird, ist, verglichen mit den zahllosen Fußnoten anderer Produkte aus dem eher intellektuellen Umfeld, von angenehmer Bescheidenheit – und wenn bei Miasma 3 keine Platitüden wie „Garbage is invading my mind“ auftauchen, wird bestimmt alles gut.
Noch besser als gut, nämlich besser wird alles bei Jackethive werden, die sich gutgelaunt vor zwei Jahren an einem düsteren Novembertag gründeten. Und was die fünf Freunde nicht unterdessen alles erlebt haben: Sie gewannen den ersten Preis bei der MDR Sputnik Scype Competition und waren im Februar Newcomer des Monats bei Viva Interaktiv. Besser wird es in Zukunft allerdings hauptsächlich aufgrund der Tatsache, daß ihr Debütalbum „Honey“ höchstens das Prädikat „bemüht“ verdient.
Als hätten Oasis mit No Way Sis noch keine kongeniale Coverband gefunden und als protzten die Kollegen von Blur nicht dauernd damit, daß sie inzwischen auch mal Postrock von Pavement hören, schnulzen sich Jackethive durch den Britpop. Klar kann man über Sex nur auf Englisch singen, doch waren denn Heinz aus Wien neulich im Vorprogramm von Ocean Colour Scene mit ihrem Garagenschlager „Ich geh jetzt schlafen ohne Dich“ nicht irgendwie rührend? Statt dessen ertönt ein barsches „Honey, I don't want to sleep with you tonight.“
Aber so läuft das einfach nicht, und mit einem Sound, der schwer nach NDR 2 klingt, ist jenseits von Nordelbien eh kein Blomenpott zu gewinnen. Geben wir also zurück ins Fair-im-Verkehr-Studio, das schon lange mit einer wichtigen Ermahnung wartet: Sind so kleine Platten, darf man nicht drauf treten, gehn kaputt dabei. Nehmen Sie also die ausgeschilderte Umleitung nach Gütersloh, vergessen die überflüssige Coverversion von „Lady Madonna“ und begreifen die Platte als Einstimmung auf das längst überfällige Mod-Revival. Gunnar Lützow
Myra Davies und Gudrun Gut: Miasma 2, „clear and cold at the higher elevations“ (Moabit/Indigo)
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