Village People 2.0: Die warme Verwandtschaft
Nach RTL und ProSieben sucht nun auch der Berliner Spartensender Timm Talente. Die Village Boys sollen die erste Boygroup für die schwule Community werden.
Vladimir Gunjic gibt alles. In roten Hotpants, den Oberkörper frei, schmettert der 22-Jährige auf dem Truck des Fernsehsenders Timm "Sweet Dreams" von den Eurythmics. Noch eine letzte Zeile singt er vom Monitor ab, lächelt in die Kamera, lässt die Hüften kreisen, dann ist sein zweiminütiger Auftritt auch schon wieder vorbei. Das Publikum johlt.
Auf dem Christopher Street Day in Berlin castet Timm die Village Boys, vier Nachfolger für die legendären Village People ("YMCA", "In the Navy"). Es ist das erste Casting für eine schwule Boygroup überhaupt. "Die Schwulencommunity ist groß, da steckt relativ viel Fanpotenzial drin", glaubt Redakteur Kai Krabbenhöft. "Außerdem war bei den Boygroups ja sowieso immer einer schwul."
Timm, der TV-Kanal mit der Zielgruppe männlich und schwul, ist seit November auf Sendung und analog in Berlin, Köln und seit Kurzem auch im Rhein-Main-Gebiet zu empfangen, deutschlandweit digital. Das Programm, eine Mischung aus US-Serien, trashiger Comedy und Eigenproduktionen, scheint zumindest bei der primären Zielgruppe zu funktionieren. "Nach sieben Monaten kennt uns über die Hälfte der schwulen Community, jeder Vierte davon schaut mindestens einmal die Woche Timm", sagt Chief Marketing Officer Ingo Schmökel.
Eine erste Befragung der Zuschauer ergab, dass neben der amerikanischen Erfolgsserie "Queer as Folk" vor allem die Eigenproduktionen des Senders von der Szene geguckt werden. Nach innovativen Formaten wie "Timmousine", einem Talk im Taxi, und "Ruby" dem ersten Modemagazin für Männer, folgt jetzt also - ganz im Stil der großen TV-Sender - eine Castingshow.
Mit selbst gedrehten Homevideos konnten sich die Kandidaten im Internet bewerben. Aus rund 250 Videos wählte die Redaktion zwölf Kandidaten aus, die beim CSD ihre Gesangskünste unter Beweis stellen durften. Die Jury aus Dschungelkönig und Ex-BroSis-Mitglied Ross Antony, Drag Queen Nina Queer sowie "Zimmer frei"-Reporterin Katja Mitchell urteilt vor Ort über die Qualitäten der Kandidaten und vergibt die "Wildcard", die einen Kandidaten direkt ins Finale befördert. Über den Verbleib der übrigen elf Kandidaten entscheidet - auch wie bei den anderen Formaten - das Publikum per Telefonvoting. Die drei Kandidaten mit den wenigsten Stimmen scheiden aus, die übrigen acht müssen beim CSD in Köln um den Platz im Finale kämpfen. Heute Abend um 20.15 Uhr gibt Timm bekannt, wer weiter auf einen Finalplatz beim Münchner CSD am 12. Juli hoffen darf. Zu gewinnen gibt es eine Reise nach New York und einen Plattenvertrag mit Universal. Jurymitglied Ross Anthony glaubt an die erste schwule Boygroup: "Die Village Boys sind eine gut gelaunte Discogruppe. Damit kann sich jeder identifizieren. Nicht nur Schwule."
Nach dem Auftritt zwängt sich Vladimir Gunjic durch die Massen: "Erst mal ein Schluck Prosecco." Der Musicaldarsteller und H&M-Mitarbeiter glaubt fest daran, dass er in die Band kommt - diesmal. Wie die meisten Bewerber hat er es zuvor schon bei "Popstars" und DSDS versucht. "Das hier ist was Besonderes, weil wir hier alle schwul sind", sagt er. "Na ja, fast alle. Bis auf Katrin und Zoschi."
Katrin Dessmann, Krankenschwester aus Köln, hatte durch Zufall von dem Casting gehört, sich einen Schnurbart angeklebt und ein Video gedreht. Da es für die Village Boys weder Alters- noch andere Beschränkungen gibt, steht die 40-Jährige heute in hautenger Lederkluft, Ledercap und schwarzem Schnäuzer auf der Timm-Bühne. Auch der fünffache Familienvater "Zoschi" fällt aus dem Rahmen. "Ich pass eigentlich gar nicht hierher", sagt der 45 Jahre alte Rockertyp mit Ziegenbart. Trotzdem will auch er den magischen Satz "Du bist in der Band" hören. Erfüllen sich Zoschis Hoffnungen, werden die Village Boys die erste schwule Boygroup mit einem Heteromann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut