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Vier Mäuse und eine Katze, sparsam charakterisiert

Vor 100 Jahren, am 1. Juli 1925, starb der französische Komponist Erik Satie. Seine Tonkunst ist gerade heute wieder aktuell

Figurine des chinesischen Taschenspielers. Satie-Uraufführung durch die Ballets Russes, Paris, Theâtre du Châtelet, 18. Mai 1917. Farbdruck nach Aquarell von Pablo Picasso (1881–1973) Foto: akg/picture alliance

Von Tomas Bächli

Das Meer ist aufgewühlt – hoffentlich zerbricht es nicht an einem Felsen – kein Mensch könnte es wieder zusammensetzen. (Erik Satie, „Sports & Divertissement“)

Komponieren heißt zusammenfügen. Was passt zueinander, was nicht, und was sind die Kriterien dafür? Im Alter von 40 Jahren fragte Erik Satie sich das aufs Neue, als er in der Mitte seiner Komponistenlaufbahn stand und deshalb an der Schola Cantorum in Paris erneut Kontrapunkt studierte: die Lehre, wie man Töne ordnet und zusammensetzt. Seine Kollegen lächelten darüber, dass sich ausgerechnet Satie, dieses Enfant terrible der Musikszene, bei der konservativen Institution des Komponisten und Musiktheoretikers Vincent d’Indy ein Zertifikat als seriöser Komponist holen wollte. Glücklicherweise komponierte Satie danach keineswegs im Stile der Schola Cantorum. Im Gegenteil. Mit der Frage, wie man Klänge zusammenfügt, beschäftigte er sich in einer Weise, die seiner Zeit voraus war.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Musik eine Erweiterung der Harmonik und eine Phase des Aufbruchs. Claude Debussy, Arnold Schönberg und Igor Strawinsky komponierten zentrale Werke, in denen alles möglich wurde: Dissonanzen mussten nicht mehr aufgelöst werden, die tonale Verankerung auf einen Grundton war nicht mehr Pflicht, und gelegentlich wurden die Akkorde so komplex, dass sie von den Zuhörenden nur noch als Sound wahrgenommen wurden. Damit wurde auch die Grenze zwischen Ton und Geräusch fließend. Es war eine Erneuerung in Richtung einer utopischen Zukunft der Musik.

Erik Saties musikalische Innovationen gehen jedoch in mehrere gegensätzliche Richtungen. Er fügt Melodien und Harmonien so zusammen, wie es vor ihm noch niemand gewagt hat. Aber er fügt nicht nur Töne hinzu, er lässt diese auch weg. Plötzlich bleibt in einem Klavierstück nur noch eine scheinbar unbedeutende Nebenstimme übrig, ein repetierter Einzelton oder eine Begleitfigur, der man ansonsten keinerlei Aufmerksamkeit schenken würde und die Satie nun ganz nackt für die Hörenden ausstellt.

Das hat eine meditative Wirkung, allerdings nicht im weihevollen Sinne, sondern in einer irritierenden Erfahrung: der Begegnung mit etwas Vertrautem, das aus seinem gewohnten Kontext heraus gelöst wird und nun einfach da ist.

Seine Zeitgenossen nahmen das mit Befremden wahr. Es brachte ihm den Ruf eines Humoristen ein, ein Image, dass er gelegentlich bestätigte, gelegentlich bestritt. Eine tiefere Auseinandersetzung mit Erik Saties Musik begann erst Generationen später, als offenbar wurde, dass auch in der Kunst die Idee eines linearen Fortschritts nicht frei von Widersprüchen ist.

Der Gegensatz zwischen dem Einfachen und dem Komplexen wird in Erik Saties Kompositionen immer wieder obsolet. Das gilt nicht nur für den Zusammenklang der Stimmen, sondern auch beim Zusammenfügen von Formteilen. Die „Danses gothiques“ aus dem Jahr 1893 sind äußerst schlicht komponiert, manche würden sogar sagen, der Komponist habe es sich etwas zu einfach gemacht.

Ein gutes Dutzend Versatzstücke, selbst wiederum Folgen mystisch aufgeladener Akkorde, werden immer wieder neu zusammengesetzt. Es entsteht eine Serie von neun Klavierstücken. Was sich mit einem Blick in die Noten sofort analysieren lässt, ist kaum zu hören, denn beim Hören versinkt man in diesem Dickicht von Wiederholungen und Ähnlichkeiten in einen Zustand der Entrückung, Das bemerkt man auch als Spieler, sobald man versucht, diese Musik auswendig zu lernen.

Die scheinbar simple Struktur verwandelt sich in ein Labyrinth, Wiederholungen werden zu Fallstricken fürs Gedächtnis, die Trance, in die die Zuhörenden geraten, droht sich auf den Spieler zu übertragen. Erik Satie erweitert die Kriterien für Musik nicht nur, er hinterfragt sie von Grund auf. Was erschafft einen Zusammenhang, was treibt ihn auseinander? In den collagenhaften Klavierstücken seiner späteren Zeit gibt es keinerlei didaktisches Fortschreiten. Im Gegenteil, die Logik des Wechsels der verschiedenen Klangblöcke ist für die Zuhörenden oft ein Rätsel. Ab und zu findet man die Lösung, manchmal findet man sie nicht.

Zu traditionellen Kompositionsmodellen hielt Satie Distanz. Die Leitmotivtechnik Richard Wagners – die Kennzeichnung von Personen durch eine erkennbare Melodie – führt Satie auf elegante Weise ad absurdum. In der Klavierminiatur „Les quatre coins“ aus dem Zyklus Sports & Divertissement werden die handelnden Akteure, vier Mäuse und eine Katze, statt mit einem markanten Motiv lediglich mit jeweils einer einzigen Note charakterisiert. Das erzeugt keinen Wiedererkennungseffekt, wie man es von einem Leitmotiv erwartet, aber die Konstellation der fünf Einzeltöne wird zum Ausgangspunkt für eine turbulente Aktion.

„Meine lieben Kommunisten­freunde sind in Dingen der Kunst ungeheure Bourgeois“

Erik Satie

Saties Absichten waren labyrinthisch und undurchschaubar, ihre Realisation dagegen ist luzide und durchhörbar. Seine kalligrafische Notation ist genau, der Klaviersatz schön und leuchtend. Trotz allen rätselhaften Entwicklungen in seinen Kompositionen behält Satie immer den Sinn fürs perfekte Timing.

Wenn Erik Satie gelegentlich aus der absoluten Musik ausbricht und in seine Noten kleine Geschichten einfügt, tut er das nicht im Hinblick auf ein traditionelles Gesamtkunstwerk. Die Ebenen driften auseinander. Oft ist es unmöglich, einen plausiblen Bezug zwischen Text und Musik herzustellen, ganz abgesehen davon, dass eine simultane Aufführung der Worte und der Musik vom Komponisten ausdrücklich verboten wurde. Sie ist auch aus praktischen Gründen wenig sinnvoll. Denn viele dieser Klavierminiaturen sind derart kurz und gedrängt, dass eine gleichzeitige Darbietung von Text und Musik das Publikum überfordern würde.

Erik Satie hat den Zusammenhang gesucht und ihm gleichzeitig misstraut – dieser Widerspruch prägte auch sein persönliches Leben. In den 1890er Jahren, auf dem Höhepunkt einer Esoterikwelle in Frankreich, bewegte Satie sich in den obskuren Sekten von Nachfahren der Rosenkreuzer. Dem sektiererischen Zugriff entzog er sich auf geniale Weise, nämlich indem er 1892 seine eigene Sekte gründete, die „L’Église Métropolitaine d’Arts de Jésus Conducteur“, mit sich selbst als einzigem Mitglied.

Von den Dadaisten ließ er sich später als eine Art Vorläufer ihrer Bewegung feiern, doch anschließen mochte er sich ihnen nicht. Auch die Kommunistische Partei, in der er 1920 Mitglied wurde, blieb ihm fremd. „Meine lieben Kommunistenfreunde sind in Dingen der Kunst ungeheure Bourgeois“, so Satie.

Erik Satie nach einer Aufnahme des Studie Hamelle, Paris 1914 Foto: Heinz-Dieter Falkens/imago

Satie hatte ein instinktives politisches Urteilsvermögen. Die Kriegsbegeisterung, die 1914 seine Komponistenkollegen in ganz Europa erfasste, war ihm fremd. Ein paar Monate vor Kriegsausbruch schrieb er das Klavierstück „Italienische Komödie“, das er mit einer kommentierenden Geschichte versah: Der vulgäre Scaramouche erklärt den Anwesenden die „Schönheiten des militärischen Standes“. „Man ist dort sehr geschickt, man macht den Zivilisten Angst.“ Im chauvinistisch aufgeladenen Frankreich waren solche Kommentare nicht erwünscht.

Es ist gut möglich dass aus diesem Grund Saties jahrzehntelange Freundschaft zum nationalistisch denkenden Claude Debussy in die Brüche ging. Die Uraufführung des experimentellen Balletts „Parade“ im Jahre 1917, eine Zusammenarbeit von Jean Cocteau, Pablo Picasso und Satie, geriet zum Skandal, die Autoren wurden als „Boches“, dumme Deutsche, beschimpft.

So interessant die Außenseiterrolle in einer posthumen Künstlervita sein mag – im wirklichen Leben ist sie keineswegs angenehm. Wie so viele Komponisten vor und nach ihm ist Erik Satie an den Folgen seines Alkoholkonsums gestorben, am 1. Juli 1925 im Alter von 59 Jahren.

Tomas Bächli, Schriftsteller, lebt in Berlin. Autor des Buches „Ich heiße Erik Satie wie alle anderen auch“

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