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Viel zuviel Fett in der Oberarmhautfalte

■ Werden Berlins Kids dicker?/ Der Senat hat ABC-Schützen untersucht/ Ein Viertel soll mehr als zehn Prozent Übergewicht haben/ Wissenschaft ist über normal oder nicht normal zerstritten/ Beratung findet in Schöneberg und Zehlendorf statt

Knusperhaus. Hänsel und Gretel spürten deutlich ein Ziehen in der Magengegend: Hunger. Drei Tage waren sie im dunklen Forst ohne ordentliche Mahlzeit geblieben — nur ein paar Beeren mußten ausreichen. Völlig normal also, daß sie an der Hexe Häuschen kräftig knusperten. Da kam dann auch keine Stimme, die vor Übergewicht warnte; die Kinder hatten das voll im Griff.

In der wirklichen Welt läuft es nicht so glatt. Märchenhaft sind hier ebenfalls Vielfalt und Masse der verfügbaren Nährmittel, doch viele Jungesser haben gerade damit ihre Schwierigkeiten. »Die Zahl der Kinder mit Übergewicht steigt«, darauf hat die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales hingewiesen. Anlaß sind die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen von 1987 in West-Berlin. Auch im Ostteil »gibt es sehr viele übergewichtige Kinder«, sagt Frau Dr. Kosche vom Jugendgesundheitsdienst Köpenick.

Bettina Riechers, Ärztin beim Bezirksamt Zehlendorf, hat unter 1.333 untersuchten Kindern und Jugendlichen 314 gefunden, die »mehr als zehn Prozent Übergewicht« haben. Seit 1988 beurteilt sie im Rahmen der »Zehlendorfer Herz-Kreislauf-Präventionsstudie« den Ernährungszustand von SchülerInnen im Alter von 7 bis 21 Jahren. Größe und Gewicht werden da bestimmt, dann greift sie zur Schieblehre (ein bewegliches Lineal) und zu einer Hautfalte am Oberarm des Nachwuchses: Wieviel Fett ist da unter der Haut?

Die Daten sind notiert, die Auswertung beginnt. Schnell stellt sich heraus: Vor Frau Riechers liegt ein Zahlenpudding. Denn in der Ernährungswissenschaft wird noch immer darum gestritten, was zu dick und damit »behandlungsbedürftig« ist. So findet die Medizinerin »überall Schwachstellen in der Feststellung des Übergewichts«.

Ebenso verzwickt ist eine andere Frage: Was steckt dahinter, wenn Kinder in die Breite gehen? Die Leiterin der Zehlendorfer Studie, Ute Michel, nennt das Stichwort »Bewegungsarmut«, sie beklagt die »deprimierend geringe Zahl der sportbegeisterten Kinder«. Auch würden Kinder mit Nahrung »ruhiggestellt«. Bei der Schöneberger Beratungsstelle »Dick + Dünn«, die bei Eßstörungen hilft, heißt es: »wichtigste Ursache sind psychische Probleme«.

Alle diese Faktoren können Übergewicht erklären, sei es als Ursache, als Folge oder als Verstärker. Aber offensichtlich noch nicht hinreichend. ErnährungswissenschaftlerInnen sind auf ihrer Suche mittlerweile bei den Kleinkindern angelangt. Sie nehmen an, daß die natürlichen Anzeiger wie »habe Hunger« oder »bin satt« gestört sind. Das kann passieren, wenn Kinder durch Mätzchen der Eltern verlernen, die innere Steuerung wahrzunehmen: »Du ißt den Teller leer, oder der böse Wolf kommt«.

Macht sich dann später viel zusätzliches Gewicht auf dem Leib bemerkbar, gibt es Ärger für die Kinder: Sie werden auf dem Schulhof oft genug mit »Fettsack« oder »fette Sau« beleidigt. Sie haben zu kämpfen mit dem Ideal der schönen Schlanken. Manche von ihnen probieren eine Diät nach der anderen — fast immer ohne erfolg. Und wenn sie dann aus Frust wieder futtern, dann seien sie in einem »Teufelskreis«, sagt Betinna Reichers. Bleiben sie in diesem Kreis, bescheinigen ihnen MedizinerInnen zudem noch höhere Anfälligkeit für Krankheiten.

Natürlich, dicke Kinder und Jugendliche werden auch fertig mit ihren Kilos, bauen sie ab oder leben in Harmonie mit ihnen. Gelingt es ihnen nicht, dann hilft zum Beispiel in Zehlendorf Charlotte Becker. In einem alten märkischen Bauernhaus — »Hexenhäuschen« nennt sie es — betreut sie Übergewichtige verschiedener Altersgruppen; die jüngsten sind sechs, die ältesten 14 Jahre alt. Bei den ganz Kleinen sind die Eltern mit dabei, und im gemeinsamen Spiel versucht Charlotte Becker herauszufinden, »wie und warum falsch gegessen wird«. Mit den Älteren spielt sie, geht schwimmen, kocht und gibt ihnen dabei Ernährungs-Tips. Immer wieder versucht sie, das Selbstvertrauen der Kinder zu stärken. Denn die »müssen sich wehren können«. Auch gibt die Pädagogin Hilfestellung bei dem Versuch der Kinder, abzunehmen: Eine große alte Waage steht unübersehbar im Zimmer und an den Wänden hängen Kilo- Kontroll-Kurven.

Eine »konservative Herangehensweise« nennt so etwas die Charlottenburger Gesundheitsstadträtin Schwarzenau (AL). Eine Waage müsse nicht sein, daß sich das Problem nicht »auf das Gewicht reduzieren läßt«. Nicht außer acht gelassen werden dürfe die »psychische Störung«. Verschieden gewichtet wird also auch bei der Ernährungsberatung für Kinder und Jugendliche. Sicher ist nur, daß es überhaupt Angebote geben soll. Bisher werden sie nur von wenigen Bezirken gemacht. Aber die Betreuung des übergewichtigen Nachwuchses gehört zum großen Bereich der Prävention und der soll gefördert werden. »Natürlich«, sagt Reinickendorfs Gesundheitsstadtrat Orwat (CDU), »geht man da von einer Idealvorstellung aus«. Stefan Warbeck

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