■ „Viagra“ sei Dank – eine kollektive Lebenslüge bricht zusammen: Männliches Outing
„Wenn die wilden Leidenschaften und Begierden von uns abfallen, sind wir einen Tyrannen los“, sagte Sophokles. Heute würde er sich Viagra verschreiben lassen. Eine neue Epoche der Männlichkeit ist angebrochen. Jedenfalls bis auf weiteres – jedenfalls so lange, bis man die Nebenwirkungen des Medikaments entdeckt hat. Also doch keine neue Epoche, sondern nur ein heiteres Zwischenspiel in der großen Tragödie der Männlichkeit?
Nein. Was bleiben wird, was nicht vergessen sein wird, auch wenn Viagra wieder vom Tisch ist, ist das männliche Outing, das mit der Begeisterung über das neue Medikament einhergeht. Denn so genau haben wir bisher doch gar nicht gewußt, was für ein Alp auf dem Kollektiv unserer Brüder lastet – wir Schwestern haben es nicht gewußt, aber die Brüder noch weniger! Denn wer vorzeitig (und was heißt „vorzeitig“?) davon betroffen ist, zieht es vor zu schweigen, und seine Mitwisserin steht im Banne des großen Tabus, das ihr absolute Diskretion gebietet.
Frauen können sich immerhin, wenn die Quantität ihrer Erfahrungen es zuläßt, eine kleine private Statistik anfertigen. Männern ist dieses Wissen verschlossen. Sie haben überhaupt keinen Einblick. Denn da sie miteinander um Gottes willen nicht darüber sprechen, haben sie nur Kenntnis über ihr eigenes, häufiges oder seltenes Versagen – aber ob es nun relativ häufig oder selten ist... woher sollten sie das wissen?
Natürlich gibt es allerhand demoskopische Erhebung über diese Frage, aber Statistik lügt, und gerade bei diesem heiklen Thema lügt sie ganz sicher; auch bei anonymer Befragung kommt die Wahrheit, die jeder Mann, auch und gerade vor sich selbst verbirgt, nicht ans Licht. Man entnimmt seine Meinung über das Normale auch nicht der Statistik, sondern dem allgemeinen Gerede, in dem Charlie Chaplin und Pablo Picasso die Leitfiguren sind. Mindestens bis zum Alter von siebzig fühlen sich Männer verpflichtet, als potent in Erscheinung zu treten und durch allerlei falsche Signale diesen Irrtum, unter dessen Auswirkungen sie selbst leiden, weiterzuverbreiten.
Eine alte Schulfreundin erzählte mir, daß sie als siebzehnjähriger Gastronomielehrling in der Bundeshauskantine Franz Josef Strauß kennenlernte. Sie ließ sich gern von ihm hofieren und allmorgendlich zum gemeinsamen Schwimmen abholen. Aber der prominente Galan kam auch nachts: Angetrunken kam er gegen drei Uhr an, nahm Platz auf dem Sofa der Zimmerwirtin, die sich von dem hohen nächtlichen Besuch geschmeichelt fühlte, und verbrachte, bis der Morgen graute, mit den beiden Frauen ein schönes Plauderstündchen. (Draußen vor der Tür warteten die Bodyguards.) Wie anders wird Strauß' Umgebung diese nächtlichen Abstecher interpretiert haben! Und man darf annehmen, daß sie auch darauf gezielt waren, falsch interpretiert zu werden. Denn daß sexuelle Zügellosigkeit dem Ruf eines Politikers nicht schadet, sondern nützt, sieht man gegenwärtig an Clinton, dessen Gestalt zum Sinnbild des Aufgerichteten geworden ist.
Nach der Statistik, die ich, unterstützt von ein paar indiskreten Freundinnen, führe, liegt der wirkliche Zeitpunkt, zu dem normalerweise die Potenz versiegt, zehn bis zwanzig Jahre früher, als man im allgemeinen annimmt. Wir haben es mit einer kollektiven Lebenslüge zu tun, die viel Unglück hervorruft: viel männliches Unwertgefühl, dessen Kompensation viel Schaden anrichtet – Schaden, der bis zum Anzetteln von Kriegen hinaufreicht.
Mit Hilfe von Viagra ist Impotenz das große Thema geworden, das zu sein es verdient. Es sollte offener behandelt werden. Denn vielleicht ist mancher Mann, so wie Sophokles, den Tyrannen des Begehrens ganz gern los und kann sich nur aus Unkenntnis über seine Normalität nicht in seine Lage schicken – seine Lage, die man mit dem antiken Autor auch als neue Freiheit verstehen könnte. Sibylle Tönnies
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