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Archiv-Artikel

Veteranen der Provokation

Des Libertins sinnliche Habgier im Online-Zeitalter: Auf Kampnagel trafen „La Fura Dels Baus“ mit ihrer umstrittenen Marquis-de-Sade-Bearbeitung „XXX“ auf gepflegte Gelassenheit

Der Skandal ist ausgefallen, mochten die versprengten Reste selbst ernannter Rechtsstaats-Freunde am Zugang zum Kampnagelgelände auch noch so mit ihren Trillerpfeifen gegen „Pornotheater“ oder „Völlerei“-Darstellungen wettern. Im Vorfeld hatten sich La Fura Dels Baus nicht nur über die angekündigten Proteste gefreut, die Truppe hatte auch verlauten lassen, Inspiration für XXX hätte auch und gerade Hamburgs Kiez geliefert.

Das mag erklären, warum das milieugeschulte Publikum gelassen blieb – trotz drastischer Bilder und Originaltextstellen, trotz angeblicher Pheromone in der Raumluft: Anders als in Frankfurt/Main oder Edinburgh schwitzten die Anwesenden am Mittwochabend einzig wegen der Hitze im Saal.

Es gab keine Flucht empörter Premierengäste, nicht mal Buhrufe, eher pflichtbewussten denn euphorischen Applaus – enttäuschend insbesondere für die massiv anwesenden elektronischen Medien, die sich im Anschluss beinahe um interviewwillige Besucher streiten mussten.

Dabei war den vier Akteuren auf der Bühne nichts vorzuwerfen – allenfalls der Inszenierung insgesamt: Dass sie nicht ganz mithalten konnte mit dem seit nunmehr 25 Jahren demonstrierten Anspruch von La Fura Dels Baus, an die Grenzen zu gehen. Mögen die Performer sich auch sichtlich fordern, die Zuschauer scheinen schwerer in Wallung versetzt – nach Jahrzehnten sei es der miterlebten Bühnenprovokation oder des medialen Hemmschwellen-Limbos.

Die Textgrundlage Philosophie im Boudoir ist keiner der großen Romane des Marquis de Sade, eher eine dramatische Variation. In dem „detaillierten Bericht über die erotische Erziehung einer Sade‘schen Heldin“ (Angela Carter) dient ihm die drastische Initiation der 15-jährigen Eugénie als Exempel für sein Konzept radikaler Selbstverwirklichung. Auch hier sind, wie Roland Barthes schrieb, „die ‚Regelwidrigkeiten‘ strengstens geregelt“. Es sind exakt sieben Lektionen, die Eugénie (Sonia Segura) durchlaufen muss; neben allerlei Stellungswechseln und anatomischen Großaufnahmen gipfelt ihre Erziehung in der mehr als symbolischen Rache an der eigenen Mutter. Aus Sades Madame des Saint-Ange und dem Chevalier de Mirvel sind Lula (Teresa Vallejo) und ihr devoter Bruder Giovanni (Damià Plensa) geworden, die sich an der Umschrift aller Moral des jungen Mädchens ergötzen, überragt noch vom zynischen Libertin Dolmancé, herrlich durchtrieben gegeben von Jorge Flores Dr. Flo.

Was eine etwaige Idee hinter XXX angeht, gibt sich die Truppe nebulös, irgendwas mit der Rolle von Sex in der Gesellschaft werde es schon zu tun haben; der philosophische, gar utopische Aspekt von Sades Text ist gleichwohl irgendwie abhanden gekommen. Vielleicht eine richtige Entscheidung, das (nach-) revolutionäre Pathos der Entstehungszeit zu hinterfragen. Die schwächsten Passagen sind indes jene, in denen der Wunsch nach Aktualisierung am deutlichsten wurde: Es hätte der angedeuteten Rahmung – Pornoproduktion mit Casting – so wenig bedurft wie der Exkurse zu Livecams, Chaträumen und Porno-Teleshopping; Brisanz lässt sich mit derlei Kolorit des Online-Zeitalters nicht herbeiinszenieren. Alexander Diehl

bis 22.8., jeweils 20 Uhr, Kampnagel