Verwirrtes deutsches Schulwesen: Tote Staatsschule, private Auferstehung
Berlin-Kreuzberg schließt eine Schule - mangels Nachfrage. Vier private Träger wollen das Gebäude mit attraktiven Lernkonzepten wieder beleben. Ein Fallbeispiel.
Wie die Sorge um den Bildungserfolg die gesellschaftlichen Milieus auseinander treibt
"Die Klassenfrage ist heute keine Geldfrage mehr, sondern eine kulturelle Angelegenheit", hat die Konrad-Adenauer-Stiftung herausgefunden. Das Auseinanderdriften der sozialen Milieus, so die Analyse in "Eltern unter Druck", werde nicht direkt durch Geld bestimmt. Inzwischen sind Bildungskapital und Bildungsansprüche der Eltern zentrale Einflussfaktoren. Die Forscher entdecken zwischen den Milieus Demarkationslinien. "Die erste trennt sozial-hierarchisch die Ober- und Mittelschicht von den Milieus am unteren Rand der Gesellschaft." Als Schutzwall nach unten gelten "Bildung, Ernährung, Gesundheit, Kleidung und Medien". Die zweite Demarkationslinie "verläuft soziokulturell und trennt die gehobenen Schichten voneinander". Auch hier spielt Bildung eine wesentliche Rolle. Man besucht nicht irgendeine Privatschule, sondern eine elitäre. Der Boom der Privatschulen verstärke den Trend.
Dem widerspricht Ludwig Häußner vom Karlsruher Institut für Entrepreneurship. Der Druck auf die Eltern entsteht durch die schlechte Staatsschule - also fliehen manche in die Privatschule. "Nicht das ideologisch besetzte Gegensatzpaar öffentlich und privat ist das Problem, sondern die Finanzierung des ,Objekts Schule'. Die vom Staat zentral bewirtschafteten Schulen sind sozusagen die letzten ,volkseigenen Betriebe'." Häußner schlägt vor, mit Bildungsgutscheinen leistungsfähige frei-öffentliche Schulen aufzubauen. Dann könnten sich alle gute Schulen leisten - und nicht nur Wohlhabende. CIF
Nathalie Maibauer: "Eltern unter Druck". Diplomarbeit. Stuttgart 2008. Educational Entrepreneurship, Karlsruhe 2006
Auf dem engen Hof der Roseggerschule weht Laub über die steinernen Tischtennisplatten. Das rostbraune Tor ist verschlossen. Seit 2004 ist das so. Da stellte die Schule im Berliner Bezirk Kreuzberg ihren Betrieb ein - aus Mangel an Schülern. Doch nun kommt wieder Bewegung in die Roseggerschule. Mehrere private Träger bewerben sich darum, die Einrichtung wieder zu eröffnen.
"Das wird kannibalistische Effekte geben - zu Lasten der bestehenden öffentlichen Schulen", fürchtet Björn Eggert. Eggert ist Sozialdemokrat und Vorsitzender des bezirklichen Schulausschusses. Er meint, dass die jetzt beliebten Staatsschulen aus dem Umkreis unter einer privaten Schule leiden würden. Im Wohngebiet gibt es großen Bedarf für Diskussion. "Wir brauchen eine offene Grundschule", sagt Heinz Kleemann vom Mieterrat Chamissoplatz. "Es kann nicht angehen, dass sich der Senat aus der Bildung zurückzieht." Kleemann ist gegen eine freie Schule.
Als es mit der Roseggerschule bergab ging, wurde das Thema nicht ganz so heiß diskutiert. Das denkmalgeschützte Schulgebäude aus rot-gelbem Backstein leerte sich zusehends. Die Eltern meldeten ihre Kinder von der Schule ab und in andere umliegende Schulen an. Der Ruf der Schule hatte Schaden genommen. Zur letzten Einschulung kamen gerade noch 19 Kinder.
"Man weiß nicht genau, wie ein guter oder schlechter Ruf entsteht", sagt Vera Vondenbäumen. Sie ist die Elternsprecherin der nahe gelegenen Lenaugrundschule. "Ruf, das ist immer so die Spielplatzparole im Kiez. Aber die Eltern, deren Kinder noch nicht auf der Schule sind, haben gar keine Möglichkeiten, sich auf empirische Daten zu beziehen."
Vondenbäumen ist verärgert, weil ihre Schule den schlechten Ruf von der Rosegger abbekommen hat. Die beliebte und als Vorzeigeschule bekannte Lenaugrundschule nämlich nahm Roseggerkinder auf, die an die umliegenden Schule verteilt wurden. Nun sinken auch an der Lenauschule die Anmeldungen.
Der Schülermix entscheidet oft über den Ruf der Schule. Ein hoher Anteil von Kindern, deren Herkunftssprache nicht deutsch ist, lässt bildungsbeflissene Eltern ihre Kinder ummelden. Arm und ausländisch - das könnte abfärben. Genau das passierte der Roseggerschule.
Die Elternsprecherin der Lenauschule wehrt sich gegen das neue Image. Ihre Schule habe sich nicht geändert. "Ganz im Gegenteil. Da sind genau die gleichen kompetenten Pädagoginnen und Pädagogen am Werk wie vorher", sagt Vondenbäumen. "Was in der Kita für die Eltern noch normal war - zusammen mit Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache zu spielen und zu lernen -, gilt ab Schuleintritt offensichtlich nicht mehr."
Eltern sind heute mehr denn je verunsichert: Welche Schule ist die beste für mein Kind? Vorbei die Zeiten, da es klar war, dass das Kind in die Schule nebenan eingeschult würde. Manche, die es sich leisten können, denken nun über private Schulen nach. Dazu beigetragen haben auch die Pisa-Ergebnisse, die gezeigt haben, dass die soziale Herkunft für den Bildungserfolg ausschlaggebend ist.
Angelika Klein-Beber, die Vorsitzende des Fördervereins Evangelische Schule Kreuzberg, will verhindern, dass die Leute wegen der schlechten Schulen aus dem Kiez wegziehen. Sie beobachtete in ihrem Haus, dass die Mieter flüchteten, sobald sie Kinder bekamen. Sie zogen in bessere Gegenden oder an den Stadtrand. Daher wollen Klein-Beber und ihre Mitstreiter den Wegzug stoppen - mit einer evangelischen Schule im Bergmannkiez. Der Verein sucht seit zwei Jahren nach einem geeigneten Gebäude. Und hofft nun, in die Roseggerschule einziehen zu können.
"Alle sind sich einig, dass das staatliche Bildungssystem es nicht geschafft hat, die Schwachen und Starken zu fördern", sagt Jan Aleith vom Verein Dreigroschen, der die Schule im Bergmannkiez öffentlich diskutieren ließ. Alle beklagten das, was typischerweise immer beklagt wird: Schlechte Ausstattung der Schulen, zu große Klassen, schlechte Ausbildung der Lehrer. "Es ist nachvollziehbar, das Eltern aus Sorge um ihre Kinder nach Privatschulen rufen," so Aleith - und er meint damit nicht nur deutsche Eltern, sondern auch die türkische Mittelschicht.
Die Gegend um die Bergmannstraße ist einer der attraktiven Berliner Kieze. Viel Multikulti, Szenekneipen, Restaurants, Antiquitäten- und Dönerläden und ein wöchentlicher Ökomarkt prägen das Angebot in dem Altbaugebiet. In letzter Zeit zogen etliche exklusive Neubauvorhaben neben Studenten und Kreativen auch besser situierte Einwohner an. Wer hier lebt, mag das bunte städtische Leben.
Bildungsstadträtin Monika Herrmann (Grüne) hat eine Prognose über die zu erwartenden Schülerzahlen anstellen lassen. Dabei kam heraus, dass es in drei bis vier Jahren wieder einen Bedarf an Grundschulplätzen in einem Umfang von eineinhalb Klassenstärken pro Jahrgang geben werde. Das reicht nicht für eine neue staatliche Schule. "Wir haben es prüfen lassen, aber es ging nicht", bedauert sie. Deswegen möchte das Bezirksamt die Schule an einen freien Träger geben - der sich allerdings bereit erklären müsste, auch Kinder aus der unmittelbaren Umgebung aufzunehmen. Herrmann befürchtet allerdings, "dass die staatlichen Schulen zu den freien Schulen nicht konkurrenzfähig sein werden."
Aber es ist gar nicht nur ein Frage der Konkurrenz von öffentlich und privat. Neben der evangelischen Schule interessieren sich noch andere Träger für die Schule. Der Privatschulträger Tüdesb etwa, der bislang türkische Kinder mit einem Busshuttle ins weit entfernte Adlergestell transportiert, konkurriert mit einem ganz ähnlichen reformpädagogischen Konzept wie die evangelische Schule. Jede Klasse umfasst 16 Kinder, sie wird von einem Lehrer und einem Sozialpädagogen begleitet. Das Schulgeld beträgt bis zu 200 Euro. Tüdesb unterrichtet in seinen Schulen vor allem Kinder aus der türkischen Mittelschicht, und das bedeutet, dass auch Türkisch Pflichtsprache ist. Aber auch hier entstehen sofort wieder Ängste.
Tüdesb nämlich könnte der nahe gelegenen deutsch-türkischen Europaschule auf die Pelle rücken, der Aziz-Nesin-Grundschule. Sie ist Berlins einzige türkisch-deutsche Europaschule und fürchtet nun, dass eine private türkische Grundschule die Kinder türkischer bildungsorientierter Eltern abziehen könnte. Die Gesamtelternvertretung fürchtet das - und Öczan Mutlu, grüner Berliner Abgeordneter gleich mit. "Ich erwarte vom Bezirk, dass er alles tut, um die einzige türkischen Europaschule Deutschlands nicht in Gefahr zu bringen."
Aber es sind noch mehr Schulen im Rennen. Eine BIP-Kreativitätsschule, die auf "Begabung, Intelligenz und Persönlichkeit" und sich doch als "Leistungsschule" versteht. Der Internationale Bund will eine Schule mit flexiblen Unterrichtszeiten in einer Gemeinschaftsschule anbieten. Für alle Schulen müsste Schulgeld bezahlt werden.
Ob Privatschulen besser sind, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen. Selbst Schüler an deutschen Privatgymnasien erlangen nach Daten des statistischen Bundesamts mit 85,6 Prozent nur unwesentlich häufiger das Abitur als Schüler an öffentlichen mit 85 Prozent.
Der Bildungswissenschaftler Jürgen Oelkers befürchtet allerdings soziale Folgen. "Die freie Schulwahl hat Segregationseffekte, weil sie überwiegend von Eltern mit höherer Schulbildung genutzt wird". Oelkers meint, Eltern achteten bei der Schulwahl sowohl auf Leistungen als auch auf die ethnische Zusammensetzung. In einer umfangreichen, länderübergreifenden Studie legt er dar, dass diese Segregation dann auftritt, wenn die Eltern die Schulen frei wählen und private Bildungsanbieter auf den Markt treten.
Andy Hehmke, Vorsitzender der SPD-Fraktion des Bezirksparlaments in Kreuzberg, ist nicht gegen freie Schulen. Aber er fordert ein längerfristiges Konzept: "Jetzt ist es ja so, dass für jede frei werdende Schule ein freier Träger bereitsteht. Diese Spirale wollen wir gern stoppen." Egal ob in Berlin oder anderswo müssten Politiker mit Anwohnern, Eltern und Pädagogen die Frage beantworten, die Jan Aleith vom Dreigroschen-Verein formulierte: "Sind die Folgewirkungen so gewollt. Und: Wenn ja, warum?"
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