■ Kommentare Das russische Volk ist reif für die Reform: Verweigerungsrecht
Als der Gesetzentwurf über einen zivilen Alternativdienst Ende 1994 in der Duma durchkam – wenn auch nur in erster Lesung –, konnten wir es kaum glauben. Angesichts ihrer Mentalität gingen die noch in bestem kriegerisch-patriotischen Sowjetgeist erzogen Deputierten erstaunlich weit: Sie charakterisierten den Alternativdienst als eine grundsätzlich „zivile“ Angelegenheit. Trotzdem hatten sie Konzessionen an die Traditionalisten gemacht. Dazu gehörte, daß der Zivildienst länger dauern sollte als der in der Armee und daß Zivildienstbewerber von bestimmten Kommissionen abgelehnt werden konnten.
Die demokratischen Kräfte, die für ein solches Gesetz eintreten, können einer solchen Regelung grundsätzlich nicht zustimmen. Das Recht auf Wehrdienstverweigerung haben alle Bürger gleichermaßen, und über ihre Beweggründe kann niemand urteilen. Jetzt, da sich die Zusammensetzung der russsischen Volksvertretung zu Ungunsten der Demokraten gewandelt hat, haben wir nur noch eine Möglichkeit, das Recht auf Wehrdienstvereigerung durchzusetzen: den Volksentscheid, zu dem die „Antimilitaristische Radikale Assoziation“ (ARA) aufruft.
Die Forderung nach einem Zivildienst berührt in Rußland sehr viel mehr als nur die Frage nach den Menschenrechten. Allein durch die Annahme eines Gesetzes, das praktisch jedem jungen Mann erlaubte, zwischen dem Dienst in der Armee und nützlicher Arbeit im Dienste des Friedens zu wählen – allein hierdurch wäre die russische Regierung gezwungen, den Kolonialkrieg in Tschetschenien zu beenden. Die Wehrpflicht würde zu einer Formalität und die langerwartete Armeereform unausweichlich.
Jene Kräfte, die sich heute in unserem Land einem Gesetz über den Zivildienst widersetzen, verstehen dies nur allzugut. Sie zu besiegen und dem Willen des Volkes durch ein allrussisches Referendum Geltung zu verschaffen, ist bei uns unter den gegebenen Umständen ein ziemlich ehrgeiziges Ziel. Aber nur so kann heute die Antwort auf das Gebaren der Advokaten des Militarismus in der Regierung und in den Reihen der Duma aussehen.
Wenn unsere Regierung auf alle Vorhaltungen des Europarates antwortet, daß unser Land noch nicht „reif“ und noch nicht „bereit“ sei – für eine normale Armee und für die Achtung der Menschenrechte –, dann sollten wir als Volk beweisen, daß wir dazu reif und bereit sind. Nikolaj Chramow
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