Verwahrlosung der Geisteswissenschaften: Einstürzende Neubauten
Verheerend: Das Freiburg Institute for Advanced Studies wird 2013 abgewickelt. Wo ist in deutschen Universitäten noch freie, hoch qualifizierte Geisteswissenschaft möglich?
Vor über 20 Jahren hielt der in Berlin lehrende Religionsphilosoph Klaus Heinrich einen aufrüttelnden Vortrag: Von der Geistlosigkeit der Universität heute. Mit seiner Diagnose zielte Heinrich nicht auf die Reetablierung der Universität als Elfenbeinturm, sondern auf die Wiedergewinnung und Bewahrung eines Raums unmittelbaren Zwecken enthobenen, gleichwohl geschichtsbewussten und weltzugewandten Denkens. Eines Raums, ohne den die Entwicklung kritischer Vernunft ebenso wenig möglich ist wie die selbstreflexive Gestaltung moderner Gesellschaften.
Heinrich sprach damals gegen die Verengung der Intelligenz auf technisch-ökonomische Rationalität. Er sprach gegen ein Verständnis von den Geisteswissenschaften als Reparaturbetrieb für Modernisierungsbeschädigungen an Mensch und Gesellschaft. Und er sprach vor dem Hintergrund einer Hochschulreform, deren Entmuffungs- und Demokratisierungsanliegen auf Grund politischer Entscheidungen in Bürokratisierung und Verwahrlosung der Massenuniversität umgeschlagen waren.
Und diese Verwahrlosung traf die Geisteswissenschaften in besonderer Weise. Denn die politisch gewollte Ausdehnung der Universität ging zuallererst zu deren Lasten. So stieg die Zahl der Studienanfänger bereits in den 1980er-Jahren um mehr als zwei Drittel, während die Zahl der Professorenstellen um weniger als zehn Prozent erhöht wurde.
Die ausgreifenden Geländegewinne instrumenteller Vernunft und die partielle Verwandlung der Universität zu einem Zwischenlager angesichts steigender Arbeitslosigkeit überflüssiger Heranwachsender hatte für die Geisteswissenschaften zwei gravierende Folgen. Zum einen galten sie zunehmend als Felder mehr oder minder überflüssiger „Orchideenforschung“. Was Mensch und Welt seien beziehungsweise sein sollten, erschien in erster Linie als Sache der Naturwissenschaften.
Eklatanter Niveauverlust
Zum anderen führte das Missverhältnis zwischen Studierendenzahlen und Hochschullehrern zu einem eklatanten Niveauverlust. Studierende der Geisteswissenschaften wurden zu Studierenden zweiter Klasse gemacht. Zudem erodierte ein elementares Qualitätsmerkmal des deutschen Universitätssystems: die Einheit von Forschung und Lehre. Intensive Lehre musste zu Lasten intensiver Forschung gehen – und umgekehrt.
Forschung wanderte seit den 1970er-Jahren an außeruniversitäre Institute aus. Damit war der Weg in die Verschulung der Universitäten vorgebahnt oder anders gesagt: die Aufspaltung der Einheit von Wissenserwerb und der Entwicklung von Kompetenzen methodisch bedachten Erkennens und Urteilens.
Dass eine geistlose, aufs Funktionale reduzierte Welt weder human noch lebenswert ist, dass ihre Fähigkeit zu Selbstreflexion und Erneuerung verkümmert, haben in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre nicht zuletzt wertkonservative, bildungsbürgerlich geprägte Modernisierer wir Lothar Späth oder Kurt Biedenkopf bemerkt, wenn auch zunächst für den außeruniversitären Raum. „High Tec – High Culture“ hieß es bei Späth und bei Biedenkopf: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“
Natürlich war das in solchen Sätzen zum Ausdruck kommende neue Interesse an Kultur nicht frei von Instrumentalisierungsmotiven – Kultur sollte Standortfaktor sein. Gleichwohl trug es zur „Rehabilitierung“ der Geisteswissenschaften bei. Deren Situation – und die Situation der Studierenden – ernst nehmend, lautete eine Schlussfolgerung aus der Misere, Forschung an den Universitäten zu stärken. Nicht zuletzt Spitzenforschung, um den internationalen Anschluss wiederzufinden.
Dafür galt es neue Formate zu entwickeln. Formate, die in die Universität wirkten, ohne von den Alltagsbedürfnissen der Massenuniversität erdrückt zu werden. Die Antwort lautete, Forschungskollegs an den Universitäten einzurichten und die dort Forschenden auf Zeit vom universitären Alltagsbetrieb zu entlasten. Ein Beispiel dafür sind die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung auf zunächst jeweils sechs Jahre geförderten Internationalen Kollegs für geisteswissenschaftliche Forschung (Käte Hamburger Kollegs). Der Titel der Förderinitiative spricht für sich: Freiraum für die Geisteswissenschaften.
Neoliberaler Zeitgeist
Zur Vorgeschichte der Käte Hamburger Kollegs gehören die unter der Regierung Schröder geführten Debatten um „Elite-Universitäten“ und die daraus hervorgegangenen Förderprogramme. Zwar zeigen diese von Globalisierungskonkurrenz und neoliberalem Zeitgeist gezeichneten Initiativen deutlich Merkmale von Ersatzmaßnahmen für eine vernünftige Reform der Massenuniversität. Andererseits sind durch die daraus hervorgegangene „Exzellenz-Initiative“ Möglichkeiten für die Geisteswissenschaften entstanden, Formate, wie die skizzierten, zu etablieren.
So ist aus der zunächst auf zweimal fünf Jahre angelegten „Exzellenz-Initiative“ auch das Freiburg Institute for Advanced Studies (Frias) an der Universität Freiburg hervorgegangen. Es besteht aus je zwei naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Schools, die sich schneller, als zu erwarten, einen internationalen Namen gemacht haben.
Hervorzuheben ist dabei nicht nur das Anliegen, Natur- und Geisteswissenschaftler miteinander ins Gespräch zu bringen, sondern auch die Absicht, Kommunikations- und Transferabbrüchen in den Geisteswissenschaften selbst entgegenzuwirken. Fellows an der von Ulrich Herbert und Jörn Leonhard geleiteten „School of History“ stammen nicht nur aus der Geschichtswissenschaft, sondern auch aus historisch orientierten Nachbardisziplinen.
Über das Frias wäre in größerem Zusammenhang öffentlich weiter nicht zu sprechen, wenn es – insbesondere die „School of History“ – nicht zum Muster vieler geisteswissenschaftlichen Kollegs an den Universitäten geworden wäre. Entscheidungen über die Zukunft des Frias sind deshalb bis zu einem gewissen Grade auch Entscheidungen über deren Zukunft. Und gerade deshalb hat die gerade erfolgte Evaluation des Frias durch den Wissenschaftsrat breite Beunruhigung hervorgerufen. Denn deren Ergebnis ist aporetisch, ein Widerspruch in sich.
Förderung ausgelaufen
Auf der einen Seite wird dem Frias international wirkende, hoch anerkannte Forschung bescheinigt. Auf der anderen Seite – und deshalb soll die Förderung auslaufen – wird kritisiert, dass das Frias nicht nah genug an der Massenuniversität arbeite. Die relative Distanz zur Universität war ein maßgebliches Gründungsargument. Nun wird es nachträglich zum Totschlagargument. Der Rücksiedlung ausgelagerter Spitzenforschung an die Universität wird ein Bärendienst erwiesen.
Dahinter steckt zudem ein Missverständnis in Bezug auf die Rückwirkung von Instituten wie dem Frias auf die normale Universität. Diese Wirkung ergibt sich nicht mechanisch, etwa indem Wissenschaftler der ortsansässigen Universität ein Freikartenkontingent für einen Aufenthalt reserviert wird. Alle BewerberInnen für Frias History müssen ihre Projekte vom internationalen wissenschaftlichen Beirat begutachten lassen, bei einer Ablehnungsquote von über 80 Prozent. Dass das nicht jedem passt, ist klar. Kollegs wie das Frias wirken vor allem als heiße Kerne, die durch die Qualität des dort Geleisteten anziehen und ausstrahlen.
Damit diese Qualität entsteht, braucht es den temporären Rückzugsraum und die Ermöglichung produktiver Unruhe, die nicht zuletzt dadurch entsteht, dass Wissenschaftler bereit sind, ihre Routinen in Frage zu stellen. Es braucht die bedachte Mischung von Jüngeren und Älteren, von vielversprechendem Nachwuchs und Arrivierten, von Deutschen und Ausländern und von Veranstaltungsformaten, die allen offen stehen.
Sklerosen in Gesellschaft und Wissenschaftsbetrieb aufbrechende geisteswissenschaftliche Forschung hängt nicht zuletzt von der Bereitschaft ab, sich selbst und sein Denken zur Disposition zu stellen. Horizonterweiterungen setzen begründete Horizonteinbrüche voraus. Die „School of History“ ist und war ein Ort dafür, kein abgehobenes Reservat für Spitzenintellektuelle. Dass man diese Einrichtung nun mit ihrem Gründungsargument nach vier Jahren liquidiert, dementiert das Anliegen der Exzellenz-Initiative.
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