Bittermanns Artikel fängt gut an. Er zitiert Tom Segev, einen der profiliertesten Kritiker israelischer Politik, benennt die beiderseitigen Geschichtsmythen, ich fühle mich erinnert an Avnerys "Wahrheit gegen Wahrheit" (www.uri-avnery.de). Man ist gespannt, was denn der irakische Schriftsteller bei seiner "Reise in das Herz des Feindes" wohl erlebt und wahrgenommen hat.
Etwas irritiert der Anfangssatz, dass sowohl die israelische Regierung als auch die Palästinenser mit Ausnahme von Hamas ("natürlich") für die Zweistaatenlösung seien - etwas irritiert, weil die israelische Rechte, die demnächst wieder regieren wird, den Palästinensern bestenfalls ein paar "Bantustans", umgeben von israelischen Siedlungen und Mauern zugestehen will und weil Hamas in seinem letzten Wahlprogramm die Anerkennung einer Zweistaatenlösung jedenfalls nicht ausgeschlossen hat.
Perplex ist man dann allerdings, wenn Bittermann plötzlich einen völkischen Nationalstaatsdiskurs beginnt, von dem man glauben sollte, dass er seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts zumindest in Europa ausgestorben sei. "Jedes Volk hat sich irgendwann in der Geschichte seinen Platz mit Gewalt genommen".
Aha. Die Völker sind also alle irgendwann von irgendwoher gekommen, haben sich ein Stück Land erobert, die einheimische Bevölkerung umgebracht oder verjagt und einen Staat gegründet. So ist das schließlich schon über die "Landnahme" Israels im biblischen Alten Testament zu lesen ...
Dummerweise ist das aber nach der historischen Forschung auch nur ein Heldenmythos.
Sicher, solche "Landnahmen" gab es, ganz oft sind "Völker" aber erst entstanden durch Vermischung von Eroberern und Eroberten (bsp. England) oder auch durch Abspaltung eines Teiles von einem größeren Staatsgebilde (Bsp. Niederlande).
Was das "jüdische Volk" betrifft, hat Schlomo Sand in http://www.monde-diplomatique.de/pm/2008/08/08/a0028.text
ein paar interessante Hinweise gegeben: "Wie das jüdische Volk erfunden wurde".
Ob es 1948 ein "palästinensisches Volk" gab oder ob es sich bei den Palästinensern nur um eine Teilgruppe des arabisch-osmanischen "Völkergemisches" handelte, ist auch umstritten. Aber - und damit hat Bittermann Recht - nach Jahrzehnten des Konfliktes mit jeweils gemeinsamen Feinden, ist – wohl – aus den verschiedenen jüdischen Einwanderergruppen ein israelisches Volk geworden (wobei manche israelische Berichte sich da angesichts der auseinanderstrebenden Gesellschaft in Israel nicht so sicher sind) und aus der arabischen Teilgruppe ein palästinensisches.
Bittermanns „Lösungsvorschlag“, die Palästinenser sollten doch einfach akzeptieren, dass Israel nun mal der Stärkere ist und bei einer Nationalstaatsgründung nun mal der Schwächere zu verschwinden hat, hat zwei „Schwächen“: Er „übersieht“, dass die Zeiten des „Gesetzes, dass das fähigere Volk immer das Recht hat, die Scholle eines unfähigeren Volkes zu erobern und zu besitzen“ (Darré 1936) seit Mitte des 20. Jahrhunderts passé sind. Er „übersieht“ auch, dass bei dem Konflikt um Israel-Palästina noch nicht entschieden ist, wer endgültig der Sieger sein wird. Heute ist der Staat Israel mit Unterstützung seiner Freunde in Nordamerika und Europa eindeutig stärker. Nicht sicher ist, ob dies so bleibt, wenn diese „Freunde“ ihre Unterstützung zurückziehen und wenn der Rest der Welt stärker wird, für den die jüdische Aneignung Palästinas oft auf einer Stufe steht mit der französischen Aneignung Algeriens und der englischen Aneignung Rhodesiens. Sicher ist, dass es noch sehr viel Gewalt und Terror – auch bei uns – weiter geben wird, so lange dieser Konflikt nicht gelöst wird, der von großen Teilen der islamisch-arabischen Welt als Teil eines „westlichen Kreuzzugs“ gegen Islam und Orient und von vielen anderen als letzter europäischer Kolonialkrieg wahrgenommen wird.
Zur „deutschen Identität“ gehörte es einmal, den gesamten deutschsprachigen Raum „von der Maas bis an die Memel“ in einem Staat zu vereinen. Das ist vorbei. Um das Land konkurrierende „Erzfeinde“ sind heute nach Jahrhunderten voller Kriege gute Nachbarn. Warum sollte dies nach Jahrzehnten voller Kriege nicht auch in Nahost möglich sein?
Avnery schreibt in seinem neuesten Brief, nach dem er sich an die großen Friedenshoffnungen nach Abschluss des „Oslo-Abkommens“ erinnert:
„All dies ist nun durch eine vergiftete Mischung von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ersetzt worden.
WENN MAN heute aufs Geratewohl zehn Passanten in einer Tel Aviver Straße anhalten und sie fragen würde, was sie über Chancen für einen Frieden denken, dann würden neun von ihnen mit der Schulter zucken und antworten: da geschieht nichts. Keine Chancen. Der Konflikt wird auf immer so weitergehen.
Sie werden nicht sagen: Wir wollen keinen Frieden; der Preis für Frieden ist zu hoch. Im Gegenteil, viele werden erklären, dass sie für Frieden bereit seien, die besetzten Gebiete herzugeben, sogar Ost-Jerusalem. Und: lasst die Palästinenser ihren eigenen Staat haben. Sicher. Warum nicht. Aber sie werden hinzufügen: keine Chancen. Es wird keinen Frieden geben.
Einige werden sagen: die Araber wollen ihn nicht. Andere werden sagen: unsere Führer sind unfähig, dies zu tun. Die Schlussfolgerung aber ist dieselbe: es wird nichts geschehen.
Eine ähnliche Befragung der Palästinenser wird wahrscheinlich zur selben Schlussfolgerung kommen: Wir wollen Frieden. Frieden wäre wunderbar. Aber es sieht nicht danach aus. Es wird nichts geschehen.
Diese Stimmung hat auf beiden Seiten dieselbe politische Situation erzeugt. Bei den palästinensischen Wahlen gewannen die Hamas nicht wegen ihrer Ideologie, sondern weil sie die Hoffnungslosigkeit in Bezug auf Frieden mit Israel ausdrückt. Bei den israelischen Wahlen gab es einen allgemeinen Rechtsruck. Die Linken wählten Kadima, Kadimaleute wählten Likud, Likudleute stimmten für faschistische Fraktionen.
Ohne Hoffnung gibt es keine Linke. Die Linke ist von Natur aus optimistisch. Sie glaubt an eine bessere Zukunft, an eine Chance, dass sich alles zum Besseren wendet. Die Rechte ist von Natur aus pessimistisch. Sie glaubt nicht an die Möglichkeit, dass sich die menschliche Natur und Gesellschaft zum Besseren hin verändert. Sie ist davon überzeugt, dass Krieg ein Naturgesetz ist.
Aber unter denen, die fast verzweifeln, sind immer noch jene, die hoffen, dass eine ausländische Intervention – Amerikaner, Europäer, sogar Araber – uns Frieden bringen könnte.“
Die Hamas wird auch durch finanziellen Druck gerade gedrängt, mit der Fatah (die früher in Israel und bei uns übrigens als genauso terroristisch und antisemitisch wahrgenommen wurde wie heute die Hamas) eine Einheitsregierung zu bilden, die dann auch zum Abschluss von Friedensabkommen in der Lage wäre. Auch israelische Regierungen reagieren nicht auf Appelle und schon gar nicht wird dies eine künftige Regierung Netanyahu-Lieberman tun (das ist der, der die israelischen Araber im Toten Meer ertränken lassen will). Aber die israelische Wirtschaft ist extrem integriert in die Weltwirtschaft. Ein Einfrieren milliardenschwerer finanzieller und militärischer Unterstützung und eine Einschränkung von Handelsbeziehungen hätte massivste Folgen für Israel. Ob es dann die Mehrheit der israelischen Juden weiter dulden wird, dass die Minderheit fanatischer Siedler die israelische Politik weiter bestimmt?
So lange es in Nordamerika und Europa genügend „Scheinfreunde“ Israels gibt, die meinen, jede israelische Regierungspropaganda nachplappern und Israelkritiker sofort als „Antisemiten“ „entlarven“ zu müssen, wird es aber keinen ausreichenden politischen Druck auf die israelische Politik, damit auch keinen Frieden in dieser Region und letztlich auch kaum eine Zukunft für Israel geben.
Warum die taz als durchaus meinungsprägendes Medium in Deutschland diesen „Scheinfreunden“ Israels immer wieder so viel Platz einräumt, kann ich nicht nachvollziehen.
Wie heißt es doch so schön im taz-Redaktionsstatut:
„Die taz engagiert sich für eine kritische Öffentlichkeit. Sie tritt ein für die Verteidigung und Entwicklung der Menscherechte und artikuliert insbesondere die Stimmen, die gegenüber den politisch Mächtigen kein Gehör finden.“
Zu Zeiten des langjährigen taz- Israel-Korrespondenten Amos Wollin war noch ziemlich klar, was das bezüglich des Israel-Palästina-Konfliktes bedeutet. Berichten soll die taz über alle relevanten Ereignisse und Meinungen. Aber eine Notwendigkeit, den Stimmen der Nachplapperer der „politisch Mächtigen“ zur Artikulation zu verhelfen, sehe ich nicht.
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