: Verträumt, depressiv, nichtsnutzig
Die letzten amerikanischen Helden setzen sich gegen sexuellen Mißbrauch und für ein neues Autoritätsbewußtsein ein. Mel Gibsons Regiedebüt „Der Mann ohne Gesicht“ lappt dabei voll ins Versöhnliche ■ Von Harald Fricke
„Mad Max“ Mel Gibson, Baujahr 1956, hat neben aktionsreichen Stuntfilmen und unbotmäßigen Shakespeare-Adaptionen noch eine dritte Schwäche, die er mit Arnold Schwarzenegger und Tom Hanks teilt: Kinder. Schon in jungen Jahren mehrfach mit Vaterschaft bedacht zu werden, das prägt. Dieser sonst wortkarge Mann, der kaum ein Lächeln über die Lippen bringt, während er seine Gegner mit lethalen Waffen ins Jenseits befördert, ist wie Arnold in der Rolle des letzten Action Heros und Romantikers seltsam gelöst und verwandelt, wenn ihm ein Halbwüchsiger zur Seite steht.
Es gibt Szenen in „Der Mann ohne Gesicht“, in denen Gibson vor Freude fast losprusten möchte, etwa wenn er über Sex reden soll. Da hat man das Gefühl, Jungen wären unter sich. Diese Szenen hat der 13jährige Young-Star Nick Stahl als pubertierender Tropf Chuck allerdings fest im Griff, und Gibson entgleitet ihm nicht.
Dabei hatte sich Gibson für sein Regiedebüt genügend eigene Erziehungsarbeit vorgenommen: „Der Mann ohne Gesicht“ versucht so ziemlich alle derzeit gesellschaftlich kaum mehr faßbaren Jugend-Themen – Elterntrennung, Kindesmißhandlung, Erziehung zum Menschengeschlecht – nochmals aufzurollen, gegen einen weiteren Strich zu bürsten und fachgerecht zu dekonstruieren. Gibson wollte Eltern und Kinder zueinander finden lassen, die noch-kiffende Beat generation mit ihren Gangs bildenden, bewaffneten Nachkommen aussöhnen. Die Mischung aus Melodram und huckleberry-finnigem Fluß-Abenteuer im amerikanischen Norden besteht dagegen eher auf einer konfliktfreien Fifties-Lösung, bei der die Frage nach der Moral auf Autorität abzielt und sich weniger dem sozialen Klima zuwendet.
Der vergrätzte Großstadtjugendliche Chuck wächst einsam und unglücklich vor sich hin. Seine scheidungsgeschädigte Mutter (Margaret Whitton als geniale Transmutation von trinkender Literatin und der Frau von Al Bundy) hält ihn für einen lernschwachen Sonderling, der gegenüber seinen beiden überbegabten Schwestern kaum bestehen kann. Während das intellektuelle Frauen-Trio hysterisch Rollenspiele auf dem Feministinnen-Weg zu einer sanften Psychoanalyse ausficht, muß der Knabe als schwarzes Schaf und Zielscheibe für die Selbstbehauptung seiner älteren Schwester Gloria (Jay Masterson) herhalten, und auch die kleinere Megan (Gaby Hoffman) hat nur Mitleid für den verträumt-depressiven Nichtsnutz übrig. Frauen können Männer im Reifungsprozeß nicht verstehen.
Chuck zieht sich zurück – nicht hinter seine Schulbücher oder wie der junge Marcel zum Onanieren in die Besenkammer, sondern in eine Traumwelt, in der John Wayne als Vaterersatz die Leerstelle des abwesenden Mannes in seinem Leben besetzt. Dann erscheint ihm Mel Gibson: die eine Gesichtshälfte von Verbrennungen entstellt, der Rest ein Ebenbild klassisch griechischer Gottheiten. Auch er hat Probleme, gilt als Außenseiter mit dunkler Vorgeschichte, von dem die Bewohner des kleinen Ferienortes Cranesport munkeln, daß der unzugänglich in einer Blockhütte lebende Einsiedler seinen Lebensunterhalt mit Pornographie verdingen müsse. Er sitzt quasi an der Quelle der männlichen Wünsche. Natürlich kommt alles ganz anders: McLeod ist ein mit allen Sophismen beschlagener Humanist, der traurig träumend am Kaminfeuer Shakespeare-Sonette rezitiert. Als geschaßter Lehrer sucht er die Zuneigung eines Schülers. Als Chuck seine Nähe sucht, läßt er den Jungen tiefe Löcher graben und spartanische Disziplin spüren, bis die Mannwerdung einsetzt. Bereits nach der dritten Unterweisung im Training von Körper und Geist ergeben Chuck und McLeod die Produktionspaarung par excellence: Der Zögling fragt nach dem Sinn des Lebens, und Mel Gibson darf mit dem Monolog des Shylock aus Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ kontern.
Chuck aber lernt zu schnell. Von seinem entstellten Lehrmeister in Sachen Skepsis überaufgeklärt, verstrickt sich der Teenager zunehmend in der Kluft zwischen Sein und Schein der Erwachsenenwelt. Dem vollbärtigen Yale-Professor und Liebhaber seiner Mutter hält er platonisch gefärbte, enthusiastische Dialoge entgegen, bis sein unbegrenzter Wille zum Wissen eine dramatische Wendung erfährt.
Als der Junge seine große Schwester mit einem biologisch voll ausgeprägten Burschen im Bett erwischt, kommt es zum ödipalen Eklat: Gloria schleudert Chuck einige Dokumente vor die Füße, die besagen, daß sein leiblicher Vater ein unverbesserlicher Alkoholiker war, der im Irrenhaus starb. Der, den er niemals überbieten konnte, wäre allzu leicht zu schlagen gewesen. Doch das traumatische Erlebnis wird noch überboten, als er völlig verstört Zuflucht bei McLeod sucht. Am nächsten Morgen klopft der Sheriff an die Tür des gelehrten Eremiten – er steht unter dem Verdacht, die Situation ausgenutzt und den schutzsuchenden Knaben mißbraucht zu haben, so wie jenen Jüngling, der damals in seinem Auto verbrannt war. Die fast schon verdrängten Narben werden für Chuck plötzlich zum Stigma, zur verräterischen Spur des scheinbar abartig veranlagten Mannes. Nach dem kurzen Sommer der Lehre bricht selbst die existentialphilosophische Weltordnung zusammen, auch wenn der kurzzeitig im Rorschachverfahren therapierte Norstadt nun um so zielstrebiger die Aufnahme an der Militärakademie besteht.
Sein Held heißt weiterhin John Wayne – nur sitzt er auf einem Motorrad und nicht auf einem Pferd. Mad Mel Max hat seine Spuren hinterlassen.
„Der Mann ohne Gesicht“. Regie: Mel Gibson, mit Mel Gibson, Nick Stahr, Margaret Whitton, USA 1993.
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