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Archiv-Artikel

Versüßen statt versauern

Warten tut weh. Aber es lohnt sich – zumindest für die Wirtschaft. Mit Langeweile lässt sich Geld verdienen

Von Marie-Christine Kesting

Berlin, Ort der Dynamik und Hektik? Von wegen! Vor dem Reichstag herrscht klirrende Kälte. Eine amerikanische Touristin steigt ungeduldig von einem Bein aufs andere. Hinter ihr reibt sich ein junger Spanier seine verfrorenen Hände. Bibbernd gesellt sich eine schwäbische Reisegruppe dazu. Bald misst die Menschenschlange hundert Meter. Alle warten, bis sie endlich die Kuppel besteigen können. Zäh dehnt sich die Zeit, und die Füße werden zu Eis.

Nicht nur vor dem Reichstag steht Berlin still. In der Hauptstadt heißt es ständig: warten auf die Tram, auf das Amt, auf den Kaffee, auf den BER. Doch wer denkt, Warten wäre für alle gleich, irrt. Während die einen versauern, ziehen andere aus dem Leiden einen Nutzen.

Mit einer ausgefallenen Idee vertreibt etwa die „Stabfigurencompany“ die lästige Zeit. Sie belustigt Warteschlangen mit einer lebensgroßen Puppe namens Eumel. Fünf maskierte Puppenspieler führen das orange-leuchtende Strichmännchen an Metallstangen. Und die Wartenden staunen: Eumel schüttelt Hände, verteilt Handküsse oder fällt den neugierigen Zuschauern leidenschaftlich um den Hals. Manchmal sinkt er sogar für eine stumme Liebeserklärung auf die Knie. „Warten bedeutet immer auch Langeweile“, sagt Sabine Weitzel, eine der Puppenspielerinnen. „Wir können die Stimmung positiv beeinflussen. Wenn Eumel auftaucht, ist das Warten schnell vergessen.“

Wartende sind dankbar für jede Ablenkung. Das weiß auch die Wirtschaft. Ganze Berufszweige leben von der Bedürftigkeit der Gelangweilten im öffentlichen Raum. Über 900 Millionen Fahrgäste zählt die BVG jedes Jahr.

Sie warten auf den Bus, die U-Bahn, das Erreichen ihres Ziels. Und als Wartende werden sie zu Kunden. Wenn der Fahrgast es sich etwa an einer Haltestelle auf den Sitzen der „Wall AG“ bequem macht, leuchtet ihm gleich ein Plakat entgegen. Das ist der Deal. „Wir stellen Stadtmöbel kostenfrei zur Verfügung und refinanzieren sie durch Vermarktung der Außenwerbung“, erklärt die „Wall AG“ ihr Geschäftskonzept.

Und wenn der wartende Passagier durch die Werbung von neuen Gelüsten gepackt wird, kann er diese sofort befriedigen. An Haltestellen und auf Bahnsteigen bieten 320 Getränke- und Snack-Automaten das vermeintlich Nötige an. Rund 1000 kleine Läden im Untergrund und in Wartehallen verkaufen Zeitungen, Backwaren, Getränke oder asiatische Gerichte, um den Leuten das Warten zu versüßen. Weniger als ein Prozent dieser Shops steht leer.

Die Rechnung geht auf, das Geschäft mit dem Warten lohnt sich. Die Wartenden kommen kaum noch dazu, Löcher in die Luft zu starren. Die Industrie verwandelt sie in schaulustiges Publikum, informationshungrige Plakatgucker oder gierige Konsumenten. Doch das ist nicht alles: Wer anders warten will, kann auch lesen. Zum Beispiel vier Seiten über das Warten in dieser Stadt. Was das bringt? Warten Sie‘s ab.