: Verständnislos und schlagzeilenversessen
■ Betr.: taz vom 31. August 1992, Kommentar von Holger Bruns-Kösters
Als verständnislos und schlagzeilenversessen empfinde ich den Kommentar von Holger Bruns-Kösters „Lichtenhagen-Syndrom“ (31.08.). Er zieht Parallelen zwischen Protesten in Bremer Stadtteilen und den Rostocker Vorgängen. Frau Gaertners Bewertung der Anti-Container Bewegung als „faschistisch“ findet er sogar mutig.
Tatsächlich ist es eine große Begriffsverwirrung.
Was ist dagegen zu sagen, daß sich von Huchting bis Vegesack sich Stadtteile mit unterschiedlichen Milieus gebildet haben? Und daß es zu jedem Stadtteil Menschen gibt, die sich vor allem da heimisch fühlen?
Und natürlich ist die Kehrseite dieses „Gleich und gleich gesellt sich gern“ auch Abgrenzung gegen Fremdes, gegen Randgruppen. Das ist aber nicht faschistisch. Oder ist es faschistisch, wenn ich auf beim Spaziergang die Sielwallkreuzung meide? Wenn ich auf dem Bahnhofsvorplatz über die bettelnden und alkoholisierten Gestalten hinwegschaue? Wenn ich beim Anblick von Roma/Sintikindern mein Portemonnaie fester halte? Randgruppenfeindliche Impulse sind in uns allen. Teils aus Erfahrung, teils als tief eingegrabene Vorurteile. Sie sind legal und wir sollten sie kennen. Wichtig ist es doch, wie wir mit dieser inneren Pandorabüchse umgehen.
Und da besteht nach allem, was ich in der taz dazu gelesen habe, ein himmelweiter Unterschied zwischen dem Bremer Protest, der sich gezielt an die hiesige Machtelite wendet, ganz überwiegend auch den Gesamtzusammenhang sehen will, und dem blinden sich Treiben-lassen, wie wir es in den Rostocker Krawallnächten erleben mußten.
Natürlich sind die Motive durchsichtig und ähnlich: Die althergebrachte, bekannte, eventuell bieder betuliche Wohnatmosphäre soll gewahrt bleiben. Das jedoch ist nicht das Erschreckende an Rostock. Erschreckend und wohl auch faschistisch ist, wie sich dort ein aufgewühlter Mob mit brutaler Hemmungslosigkeit diesen Instinkten überlassen hat.
Frau Gaertner hätte sich als produktive Politikerin erwiesen, wenn sie versucht hätte aus der erst einmal egoistischen Betroffenheit eine Bürgerbewegung abzuleiten, die sich mit ihr daran macht, das hiesige Drogenelend bei der Wurzel zu packen. Durch Legalisierung mindestens der weichen Drogen, Ausbau der Prävention, Humanisierung der Lebenswelt u.ä. So aber hat sie eine Chance vertan, das Klima für eine freie Debatte über dieses brenzlige Thema verschlechtert, die in linken Kreisen schwer genug ist, und der taz-Kommentator findet es noch mutig. Rainer Pagel
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