Verschobenes verschieben

DUETT Der Unterschied zwischen „irgendwo“ und „woanders“: Mit „Sturzflug“ nimmt sich das Theater Thikwa Karl Valentin und Liesl Karlstadt zum Vorbild

Es muss nicht immer alles mit der Säge passend gemacht werden

Der Zollstock gehört zu den wichtigen Utensilien in Karl-Valentin-Sketchen, und an diesem Abend ist er signalrot, ausgeleiert und eigentlich viel zu klein. Es ist auch nicht die Wohnungseinrichtung, sondern eine Frau, deren Hand- und Armlänge, Hüft- und Schulterbreite hier vermessen werden, schließlich gar der Abstand zwischen Nasenlöchern und Augenbrauen. Mit einer slapstickhaften Genauigkeit und pedantischer Präzision, die signalisiert, dass den Verschiebungen der Norm getreu Valentin zuallererst eine Komik innewohnt. Und dass jede Verschiebung weiter verschoben werden kann.

Es sind aber nicht nur seine Sketche, es sind die Alter Egos von Liesl Karlstadt und Karl Valentin selbst, die in „Sturzflug“, dem Valentin-Abend des Theaters Thikwa, in den Mittelpunkt rücken. „Stubn“ steht in stilisierter Füllfederschrift auf der weißen Bühnenfläche geschrieben. Dazu ein Bett, ein Tisch, an dem der Schauspieler Torsten Holzapfel, dem spillerigen Valentin durchaus etwas ähnlich, und Makiko Tominaga mit angedeutetem Karlstadt-Dutt liebevoll absurd über den Unterschied zwischen „irgendwo“ und „woanders“ ins Hadern kommen.

Links neben dieser stilisierten Wohnstube sitzen die behinderten Thikwa-Spieler samt einem Musiker auf einer zweiten Spielfläche wie Zuschauer, die sich aber auch immer wieder ins Geschehen einmischen. Wird im Sketch die Brille gesucht, putzen sie am Ende ihre eigenen Brillen, blicken streng, als mahne man das Paar in ihrer Stubn zu mehr Klarblick an. Verbeißt sich das Paar schmollend in einen Dialog, verständigen sich zwei der Spieler in einer karikierenden Gebärdensprache. Mit freundlichem Witz ist die collagenhafte Inszenierung grundiert, der die Unverhältnismäßigkeiten der Welt als komischen Entwurf nimmt, aber auch den Spieß umzudrehen vermag.

Die Geschichte einer ungewöhnlichen Erbschaft bildet den roten Faden. Das Paar erbt Möbel von Verwandten. Die entpuppen sich als Liliputaner, und die neuen Betten sind viel zu klein. Das Amüsement liegt jetzt bei den Behinderten, die als schnatternde und tratschende Nachbarn im Türrahmen stehen, maliziös das Paar beobachtend, das sich dem Mobiliar anzupassen versucht. Wie die Spieler mit leichter Hand verschobene Normen zum Thema machen, daraus entwickelt sich in „Sturzflug“ ein Sog, der einen mit der etwas abgegriffenen Clownsästhetik versöhnt, die Gerd Hartmann, seit 1993 wiederholt Regisseur bei Thikwa, seiner Inszenierung anfänglich verleiht. Im Laufe des Abends wechseln kleine Choreografien mit Schauspiel und Musik. Manfred Effinger produziert Livegeräusche und Musik im Tiger-Lilies-Style, mit Akkordeon und jaulenden Harmonien, die auch etwas Anarchisch-Melancholisches haben.

Übertriebene Stummfilmbewegungen werden in einer Paarszene imitiert, eine Reminiszenz an Valentin, der sich für das Medium begeisterte und etliche Stummfilme drehte. Doch die Inszenierung emanzipiert sich auch von dem Witz, die Widrigkeiten des Alltags immer grob anzupacken, etwa ein schiefes Möbelstück so lange zu sägen, bis nichts mehr davon übrig ist.

Buchholz und Tominaga schieben dagegen ihre puppenhaften Liliputanerbetten zusammen, zwängen sich mit verschränkten Gliedern in die winzige Schlafstatt, verschlingen Arme und Beine ineinander. Ein zärtliches Zweisamkeitskörperduett, das Nestwärme ausstrahlt und die Botschaft dieses kompakten 80-minütigen Thikwa-Abends unaufdringlich verpackt: Es muss nicht immer alles mit der Säge passend gemacht werden, man kann auch die Dinge hin und her schieben, bis es sitzt. SIMONE KAEMPFF

■ „Sturzflug – Lachforschung mit Karl Valentin“. Theater Thikwa, Fidicinstr. 40, 26. bis 30. Januar, 20 Uhr