Verschleppte Tschetschenen: Russland muss Opfer entschädigen
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Moskau zu rund 700.000 Euro Schadenersatz an Tschetschenen. Deren Angehörige wurden 2002 von russischen Sicherheitskräften verschleppt.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Russland zu einer Zahlung von rund 700.000 Euro verurteilt. Verwandte von Tschetschenen, deren Angehörige bei einer sogenannten Säuberungsaktion russischer Sicherheitskräfte 2002 in Tschetschenien festgenommen und einige davon wenig später tot aufgefunden worden waren, hatten Russland verklagt. Die Summe von über 700.000 Euro ist Angaben der Onlineausgabe der Tageszeitung Kommersant die bisher höchste Summe, zu der Russland von dem Gericht in Straßburg an einem Tag verurteilt worden ist.
Alle sechs vom Europäischen Menschengerichtshof am vergangenen Wochenende entschiedenen Klagen beziehen sich auf Verbrechen, die sich zwischen Frühjahr und Herbst 2002 in Tschetschenien während des zweiten Tschetschenienkrieges ereigneten. Schwerpunkt einer der Klagen sind sogenannte Säuberungsaktionen in der tschetschenischen Ortschaft Starye Atagi zwischen dem 6. und dem 10. März 2002 durch russische Sicherheitskräfte. Wenige Tage später wurden die Leichen von einigen der zehn Festgenommenen Tschetschenen, teilweise von Folter entstellt, entdeckt.
Unter den Verschleppten befand sich auch der damals 22-jährige Ismael Dschamajew. Das Letzte, was seine Verwandten von ihm in Erfahrung hatten bringen können, war, dass er in einem sogenannten Filtrationslager festgehalten werde. Nachdem sich die Angehörigen von Dschamajew an den damaligen Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow gewandt hatten, so der Kommersant, war eine Sonderkommission gebildet worden, deren Nachforschungen jedoch ohne Ergebnis blieben.
Das Straßburger Gericht war zu der Auffassung gekommen, dass die russischen Behörden mehrere grundlegende Menschenrechte der europäischen Menschenrechtskommission verletzt hätten, wie das Recht auf Leben und ein faires Gerichtsverfahren. In fünf der sechs entschiedenen Fälle, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung, hätten die Kläger "klar und überzeugend die Entführung ihrer Angehörigen durch russisches Militär" beschrieben. Aufgrund dieser Angaben sei das Gericht zu der Überzeugung gekommen, dass die betroffenen Angehörigen getötet worden seien oder man davon ausgehen könne, "dass sie nach ihrer Festnahme durch russische Militärs bei Sicherheitsoperationen getötet worden sind".
Menschenrechtler weisen darauf hin, dass eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für tschetschenische Kläger immer wieder mit Risiken verbunden ist. Wenn die Namen der Kläger, die Schadenersatzzahlungen erhalten, bekannt werden, müssen sie in besonderer Weise befürchten, Opfer von Erpressungen zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW