Verschiedenheit von Menschen: Liberal, queer und fromm
Ruth Heß, die neue Gleichstellungsbeauftragte der Evangelischen Kirche, hinterfragt die Zwei-Geschlechtlichkeit und sieht darin kein theologisches Problem.
Judith Butler und Joseph Ratzinger – was verbindet die Gender-Theoretikerin mit dem Papst? Für solche Fragen interessiert sich die neue Gleichstellungsbeauftragte der Bremischen Evangelischen Kirche. Heute Abend wird sie mit einem Gottesdienst in der Kirche Unser Lieben Frauen in ihr Amt eingeführt.
Die Predigt hält sie selbst – damit dürfte Ruth Heß unter den deutschen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten eine Ausnahme sein. Selbst in christlichen Kreisen sind diese selten Theologinnen. Und wahrscheinlich ist die 37-Jährige, die zuvor in Bochum und Bern als Wissenschaftlerin gearbeitet hat, unter diesen die einzige, die über Butler und Ratzinger referieren kann. Oder Vorträge hält mit Titeln „queer_theology_queer theology. Eine Kartographie schlüpfriger Diskurse“.
Nein, keine Sorge, sagt sie beim Interview im kleinen Dach-Büro im Haus der Kirche an der Wilhelm-Kaisen-Brücke. In ihrer Predigt werde sie nichts erzählen über das Verhältnis von Theologie und „queeren“ Diskursen. Also solchen, die sich der Vorstellung entgegenstellen, es gebe ausschließlich Männer und Frauen und normalerweise auch nur sexuelle Beziehungen zwischen diesen. „Ich passe die Inhalte und die Titel natürlich an den Kontext an“, sagt Heß und zeigt auf einen Flyer, der eine von ihr organisierte Veranstaltung im Juli ankündigt. „Let’s talk about ... Feminismus(!) – Fünf Frauengenerationen auf der Couch“.
Das Papier klebt auf einer gemalten Tabelle an der Bürowand ganz links unter dem Stichwort „Frauen“. Die brauchen auf Heß’ Tafel eine eigene Spalte, weil sie die erste in der Bremer Landeskirche ist, die nicht mehr nur für Frauen und deren Förderung zuständig sein soll, sondern als Gleichstellungsbeauftragte explizit auch für „Männer“ – so der Titel einer weiteren Tabellenspalte – und für „Diversity“. Damit ist das Anerkennen der Verschiedenheit von Menschen gemeint.
Unter dieser Überschrift findet sich der regenbogenfarbene Flyer zu einem „Kinoabend gegen Homophobie“. Gemeinsam mit dem Pastor der Immanuel Gemeinde hatte Heß vergangene Woche einen Film gezeigt, der die schwulen- und lesbenfeindliche Einstellung von konservativen Christen thematisierte. Trotz des zeitgleich stattfindenden EM-Spiels Deutschland-Niederlande sei der Abend mit 30, vor allem älteren Leuten gut besucht gewesen, sagt Heß. Besonders berührt habe sie die anschließende Diskussion, an der sich auch ein über 90 Jahre alter Mann beteiligte. „Der war fassungslos, dass er ausgerechnet in der Kirche eine Wertschätzung seines Lebens erfuhr.“
Heß sieht darin selbst allerdings keinen Widerspruch. „Es erscheint oft so, als wären die Kirche und die Theologie der Hort des Konservativen in einer liberalen Welt, in der alles in Ordnung ist und die der Kirche auf die Sprünge hilft.“ Heß argumentiert dagegen und hält aus theologischer Sicht Geschlechtergerechtigkeit und Diversity für urchristliche Projekte. „Weil noch etwas aussteht“, sagt sie. Und meint: Das Gott das letzte Wort hat und wir nicht wissen können, wie viele Geschlechter er für möglich hält und welche Arten von Beziehungen. Dazu passt das von ihr für die heutige Predigt ausgewählte Bibelzitat, eins das Judith Butler gefallen würde und dem Papst Probleme bereitet: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.“
Bei aller Theorie: Heß wird sich auch mit praktischen Fragen beschäftigen. Etwa der, wie den Kindern in den Kindergärten der Evangelischen Kirche ermöglicht werden kann, eine Welt jenseits von rosa und hellblau zu erleben. „Interessant“, sagt sie, wäre auch, mit dem Pastor von Sankt-Martini darüber zu diskutieren, dass in seiner Gemeinde keine Frauen predigen dürfen. Bewerten oder gar verurteilen will Heß diese Entscheidung nicht. Jedenfalls nicht bevor sie alle theologischen Argumente ausgetauscht habe. „Jede Position hat ihre Logik, die möchte ich erst einmal verstehen.“
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