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Archiv-Artikel

Verschieden zu sein, ist Programm

AUS DUISBURG ANNE SOPHIE BRANDT

Mario sitzt vor einem großen Pappkarton. Genüsslich greift der 13-Jährige mit der ganzen Hand in den Kleisterpott und schmiert einen Zeitungsfetzen ein. Den klebt er auf den Karton, streicht ihn kurz fest und klatscht in die Hände. Der flüssige Kleister fliegt nach allen Seiten. Stefan neben ihm beschwert sich: „Oh, Mann Mario.“ Mario grinst und schmiert sich die Hände und Unterarme mit dem Kleister ein, als wäre es Handcreme. Dabei singt er: „Sexbomb, Sexbomb, hmm... hmmm!“

Die Klasse 7b der Emil-Rentmeister-Hauptschule in Duisburg-Hochfeld bastelt Pappmascheeköpfe: Marsmenschen für das Schulfest. Letzte Woche haben sich die 20 Schüler Aufsätze zum Thema „Mars Attacks“ ausgedacht. Alle haben ihren Text mit der Hand geschrieben, nur Mario hat einen eigenen Computer in der Klasse. Seine Mitschüler meinen zu wissen, warum: „Mario hat so dicke Finger“, erklärt Matthias, „deswegen kann er nicht schreiben.“ Mario lacht: „Nein, ich habe eine Lernschwäche. Den Computer habe ich, damit man meine Schrift besser lesen kann.“

Integrationshelfer

Zusammen mit Mario sind in der 7b drei weitere Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Sie werden im Gemeinsamen Unterricht (GU) zusammen mit Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in einer Klasse unterrichtet. Um die Kinder individuell nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten zu unterrichten, gibt es zwei Klassenlehrer: einen Hauptschullehrer und einen Sonderpädagogen. Sie unterrichten im Team. Für die Projektwoche ist die 7b in den Werkraum umgezogen, um ihre Pappmascheeköpfe zu basteln. Auch hier wird die Klasse von zwei Lehrern und einem Integrationshelfer betreut.

Vor zehn Jahren starteten drei Duisburger Schulen mit dem Gemeinsamen Unterricht. Dass dieser an der Emil-Rentmeister-Schule ein Erfolgsmodell ist, hat viel mit der Unterstützung der Schulleitung zu tun. Sie stand von Anfang an vorbehaltlos hinter dem ersten GU-Team und hat stets für die neue Unterrichtsform geworben. Die Kollegen bekamen die Vorzüge mit: Gute Teamarbeit im GU vermindert den Druck, und der Erfahrungsaustausch zwischen dem Regelschullehrer und Sonderpädagogen ist eine Bereicherung. Für die Schüler sind ihre Klassenlehrer Vorbilder: Sie erleben mit, wenn es Konflikte im Team gibt und erfahren durch ihre Lehrer, wie man damit umgehen kann. Mittlerweile lernen alle Schüler einschließlich der Jahrgangsstufe 7 zweizügig im Gemeinsamen Unterricht.

Das Unterrichtsmodell ist an der Hauptschule nichts Besonderes mehr. Die individuelle Förderung der Kinder ist Alltag. Damit ist die Schule ihrer Zeit voraus. Im Juni wurde das neue NRW-Schulgesetz verabschiedet. Es sieht eine individuellere Förderung von Kindern mit Entwicklungsverzögerungen und Behinderungen vor. Hauptschulen sollen vor allem in sozialen Brennpunkten besser werden. Das hatte Schulministerin Barbara Sommer (CDU) im März gefordert.

Was Schulgesetz und Ministerin festlegen, hat sich an der Emil-Rentmeister-Schule schon bewährt. Wortfetzen, türkische und deutsche, fliegen durch den Raum. Die Kinder stehen in Zeitungspapier und Prospekten und kleistern. Die Pappmascheeberge auf dem großen Werktisch wachsen. Mehmet hat sich auf einen Stuhl gestellt, um besser hantieren zu können. Hülya streicht sich die langen goldenen Ohrringe mit dem Handrücken zur Seite, um sie nicht einzukleistern. Die meisten Kinder sind mit ihren Masken weiter als Mario. Baris hat eine geistige Behinderung und ist motorisch stark eingeschränkt. Ohne Michael, seinen Integrationshelfer, wäre er aufgeschmissen. Michael studiert Sonderpädagogik und hilft Baris im Unterricht. Immer wieder muss er ihn anstupsen, damit Baris weiter arbeitet.

„Auf die pass‘ ich auf“

Ahmet und Sabine, die beiden anderen Kinder mit Förderbedarf, bekommen Hilfe von Hauptschullehrerin Inge Scheibe. Sabine, ein Mädchen mit Down-Syndrom, macht immer wieder Pausen und beobachtet sehr genau, was um sie herum vorgeht. Im Gegensatz zu Mario kleistert sie mit spitzen Fingern. Während die Masken der anderen Kinder Gestalt annehmen, ist Mario mit seinem Pappmascheekopf noch ziemlich am Anfang. Überall scheint Kreppband durch und die Zeitungsfetzen stehen kantig ab. Aber Mario will in seinem ganz eigenen Rhythmus arbeiten. „Nee, nee, ich brauche keine Hilfe“, erklärt er. Er darf solange gewähren, bis er ganze Hochglanzprospekte auf den Pappmachee-Kopf zu kleistern beginnt. Jetzt schreitet Klassenlehrerin Margarethe Wimmer-Tersteeg ein: „Du musst das schon ein bisschen ordentlicher machen, sonst hält das nicht.“ Mario weiß da eine Lösung: mehr Kleister.

Die Klassengemeinschaft in der 7b ist gut. Die Kinder sind oft laut und wibbelig. Die Jungs toben beim Basteln, die Mädchen quatschen lieber, statt zu kleistern. Auf Ahmet, Sabine, Baris und Mario lassen sie aber nichts kommen. Sie kennen sich seit der fünften Klasse, teilweise auch schon aus der Grundschule. „Die sind genau so wie wir“, weiß Leon. „Ich musste früher auch zur Ergotherapie.“ Hussein hat in jedem Ohrloch ein Brilli-Imitat und modisch zerfetzte Jeans. Er ist so was wie der Chef in der Klasse, redet viel und macht Blödsinn. Wenn es um die Kinder mit Förderbedarf geht, wird er ernst. „Auf die passe ich auf“, erklärt er. „Nicht alle können mit denen umgehen, aber ich habe Geschwister mit geistiger Behinderung, ich weiß, wie man anderen hilft.“

Prinzip Ungerechtigkeit

Unterschiede und Beeinträchtigungen würden nicht verschwiegen, erklärt Sonderpädagogin Ulrike Depke. „Wir reden darüber in den Klassen. Allerdings nehmen sich die Kinder untereinander aufgrund ihrer Persönlichkeit an, die Stärke der Beeinträchtigung spielt da keine Rolle.“ Ulrike Depke ist Klassenlehrerin einer neunten GU-Klasse. Gemeinsam mit ihrem Hauptschulkollegen Heinz Brandt ist sie vor zehn Jahren in den Gemeinsamen Unterricht an der Emil-Rentmeister-Schule gestartet.

Hochfeld ist ein Stadtteil „mit besonderem Erneuerungsbedarf“. Etwa 200 der 300 Schüler sprechen Deutsch nicht als Muttersprache. Auch Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf haben häufig Probleme in ihrer Entwicklung, mit Sprache und Lernen. In den Klassen gibt es deshalb ganz unterschiedliche Arbeits- und Lernrhythmen. „Wir arbeiten nach dem Prinzip Ungerechtigkeit“, erklärt Sonderpädagogin Depke. „Wir erwarten von jedem Kind etwas anderes. Alle sollen nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten mitarbeiten und werden so auch beurteilt.“ Davon profitieren dann auch die Schüler ohne besonderen Förderbedarf. Vorurteile werden abgebaut und die Schüler lernen, dass es normal ist, verschieden zu sein und verschieden zu lernen. „Ohne GU wären wir nicht die Schule, die wir sind“, erklärt Ulrike Depke. „Wir sind eigentlich keine Hauptschule, sondern eine GU-Schule.“

Als es um halb eins klingelt, ist bei den Schülern der 7b die Luft raus. Die Planung für den nächsten Tag geht im allgemeinen Chaos unter. Matthias und Leon hören nicht mehr zu und spielen mit Kleisterresten, Sabine kriecht unter den Tisch, weil sie nicht abgeholt werden will. Aber alle Pappmascheeköpfe sind fertig. Auch der von Mario.